Landwirtschaftsflächen schrumpfen täglich um etwa 70 Fußballfelder

Bis 2030 wird die landwirtschaftliche Fläche in Deutschland um 300.000 Hektar kleiner. Autoren einer Studie sprechen sich für Mehrfachnutzungen aus

Foto: Andreas Hermsdorf / pixelio.de
Foto: Andreas Hermsdorf / pixelio.de

 

Von Christian Urlage

 

Es ist eine anschauliche Zahl: 70 Fußballfelder oder mehr als 50 Hektar – in dieser Größenordnung verliert Deutschland aktuell jeden Tag für die Landwirtschaft genutzte Flächen. Weil neue Siedlungen entstehen, dieser Raum für den Verkehr genutzt wird oder für Freiflächen-Photovoltaik. Die Zahlen sind in einer knapp 100-seitigen, lesenswerten Studie des Braunschweiger Johann Heinrich von Thünen-Instituts nachzulesen, die Wissenschaftler im Auftrag des Bundesagrarministeriums erstellt haben und die im Internet kostenlos zugänglich ist. 

 

Die Autoren schätzen, dass die landwirtschaftliche Fläche bis 2030 um mehr als 300.000 Hektar zurückgehen wird. Umgerechnet sind das Tag für Tag nicht weniger als 109 Hektar – und damit mehr Fläche, als ein durchschnittlicher Bauernhof bewirtschaftet (etwa 64 Hektar). Grund, Alarm zu schlagen, besteht derzeit zwar nicht, denn die Ernährungslage ist in Deutschland ungefährdet und unser Land hat nach wie vor einen hohen Selbstversorgungsgrad. Zugleich wird jeder Hektar intensiver genutzt als in früheren Jahrzehnten. Und noch immer stellt die Landwirtschaftsfläche mit rund 50 Prozent den größten Teil der Fläche in Deutschland.

 

Getreideerträge schwanken wegen des Extremwetters

 

Doch der Ukrainekrieg mit gravierenden Folgen für die dortige Ernte hat gezeigt: Die Versorgungslage kann sich schnell ändern. Hinzu kommt: Extremwetter führt mit weiteren Faktoren dazu, dass die Erträge in Deutschland beim Getreide seit etwa zehn Jahren schwanken. Und die wertvolle Ressource Boden wird knapper.

 

Für Photovoltaik wird viel Freifläche benötigt, ebenso für Aufforstungen und für die Wiedervernässung der Moore. Das alles ist sinnvoll, summiert sich aber. Es kommt zu Zielkonflikten. Daher sehen die Autoren gravierende Herausforderungen für die Politik. Im Umgang mit dem Boden habe Deutschland eine globale Verantwortung und sollte Vorbild sein, meinen die Autoren der Thünen-Studie. „Die Nutzungsansprüche müssen künftig stärker gegeneinander abgewogen werden, und Synergien und Mehrfachnutzungen von Flächen sollten so weit wie möglich realisiert werden“, fordern sie.

 

Photovoltaik-Überdachung auf Parkplätzen

 

Als Beispiele nennen die Wissenschaftler den Ausbau der Photovoltaik auf Siedlungs- und Verkehrsflächen, auf wiedervernässten Mooren oder in Kombination mit landwirtschaftlicher Nutzung. Photovoltaik sei als Überdachung von Parkplätzen oder an Lärmschutzwänden möglich, ebenso an nicht genutzten Verkehrs-, Gewerbe-, Abbau- und Kippenflächen. Solarenergie auf Freiflächen habe den Vorteil, dass der Boden für eine Betriebsdauer von 30 bis 40 Jahren geschont werde. Die Funktionen des Bodens blieben erhalten, da die Versiegelung niedrig und die Fläche bewachsen ist und nicht gedüngt werden müsse. Das klingt schlüssig.

 

Bayerns Agrarministerin Michaela Kaniber interpretiert die Ergebnisse in ihrem Sinne, die CSU-Politikerin sieht sich in ihrer Politik durch die Forderungen aus dem Thünen-Institut bestätigt. „Wir können es uns schlichtweg nicht leisten, unsere wertvollen Grünland- und Ackerflächen zu verschwenden oder stillzulegen“, erklärte Kaniber in einer Pressemitteilung. „Wir müssen die Flächen intelligent nutzen. Sie pauschal stillzulegen und aus der Nutzung zu nehmen, ist in mehrfacher Hinsicht falsch.“

 

Bundeslandwirtschaftsminister Cem Özdemir dürfe die Ergebnisse des Thünen-Instituts nicht nur zur Kenntnis nehmen, „sondern er muss sie sich ins Stammbuch schreiben“, forderte die Ressortchefin.

 

Auch der Landesjagdverband ist im Bündnis „Ländle leben lassen“

 

Gegen zu viel Flächenverbrauch wendet sich auch ein Bündnis in Baden-Württemberg. Zwar will die grün-schwarze Koalition in Stuttgart bis 2035 den Flächenverbrauch auf 2,5 Hektar pro Tag reduzieren und dann ganz auf eine Netto-Null gehen. Doch der Initiative „Ländle leben lassen“, einem Bündnis aus mehr als 20 Verbänden, reicht das nicht. In einem Volksbegehren fordert die Initiative Unterschriften für einen Antrag an den Landtag in Stuttgart. 

 

Darin wird die baden-württembergische Landesregierung unter anderem ersucht, den Erhalt fruchtbarer Böden im Rahmen der Bauleitplanung rechtlich stärker zu gewichten. Durch geeignete Anreize und Regelungen solle die Landespolitik zudem sicherstellen, dass bestehende Vorschriften zum Schutz landwirtschaftlicher Flächen in der Praxis besser umgesetzt werden. 

 

Mehr als 41.000 Menschen haben bereits unterzeichnet. Diese Zahl reicht aus, damit der Landtag darüber beraten muss, doch es wird noch geprüft, ob auch alle Unterschriften gültig sind. Bemerkenswert ist die Bandbreite derer, die sich dem bunten Bündnis angeschlossen haben: Neben dem BUND, Fridays for future und dem Landesnaturschutzverband gehören ihm auch der Landesbauernverband, der Landesfischereiverband und der Landesjagdverband Baden-Württemberg an.

 


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