Für viele im ländlichen Raum bedeutet ein Verzicht auf den Führerschein auch in Zukunft einen Verlust an Lebensqualität

Von Wolfgang Molitor
In Hinterbüchelberg nennen sie es eine Schnapsidee. Und fragen sich, wie das denn wohl funktionieren soll, wenn sie ihren Führerschein abgeben und dafür ein Jahr lang freie Fahrt in Bus und Bahnen ihres Verkehrsverbundes haben. Denn im Ortsteil von Abtsgmünd im Ostalbkreis wissen nicht nur die über 65-Jährigen, dass der öffentliche Personennahverkehr, den die Dienstwagenfahrer aus dem Stuttgarter Ballungsraum über den grünen Klee loben, im ländlichen Raum keine Alternative zu dem eigenen Auto sein kann. Nicht nur in Baden-Württemberg.
Sicher: In Hinterbüchelberg gibt es eine Bushaltestelle. Sie wird auch angefahren: zwei Mal am Morgen hält ein Bus für die Schüler, und nachmittags werden sie über drei Touren verteilt wieder nach Hause gefahren. Das war’s dann aber auch schon. Wer tagsüber in die Stadt will, um einzukaufen oder sich mit anderen zu treffen, müsste erst einmal in Pommertsweiler umsteigen, wo es ein halbwegs regelmäßiges Busangebot gibt. Aufs Auto können nicht nur Senioren da nicht verzichten.
Minister: Ohne Führerschein mobil
Der grüne Verkehrsminister sieht das anders. Es brauche keinen Führerschein, um mobil zu sein, sagt Winfried Hermann, offensichtlich ohne leiseste Ahnung vom Mobilitätsleben im ländlichen Raum.
Von den 21 Verbünden in Baden-Württemberg beteiligen sich 14 an der Aktion des Landes. Drei Millionen Euro kommen dazu vom Ministerium, das Finanzierungsloch bei den Verbünden ist unklar. Denn vieles passt nicht. Die Taktung im Nahverkehr, die unzureichende Verknüpfung der unterschiedlichen Verkehrsmittel, allein das schreckt ab. Und natürlich bringt einen der Bus aus dem Dorf nur bis zum nächsten Bahnhof, nicht zu den Geschäften. Zudem fehlen Fahrradwege, auch wenn Hermann behauptet, dass viele Alltagswege mit dem Fahrrad oder zu Fuß möglich seien. Ohne Führerschein und Auto: Für viele im ländlichen Raum heißt das auch künftig: Ein Verzicht auf den Führerschein ist ein Verzicht auf Lebensqualität.
Jugend will nicht auf Auto verzichten
Wobei allen politisch motivierten Umerziehungsmaßnahmen zum Trotz nicht unerwähnt bleiben darf: Der Drang zum Führerschein ist ungebrochen. Zwischen 2017 und 2020 wuchs die Zahl der Führerscheinbesitzer von 55,86 Millionen auf 57,45 Millionen. Die Zahl der Menschen ohne Schein verringerte sich von 14,09 Millionen auf 13,07 Millionen, wie aus Angaben der Verbrauchs- und Medienanalyse hervorgeht. Mehr noch: Der Studie „Jugend in Deutschland“ zufolge sind nur 19 Prozent der 14- bis 29-Jährigen bereit, auf ein eigenes Auto zu verzichten.
Und die Rückgabe-Aktion? Sie schleppt sich dahin. Seit 2015 wird die Abgabe des Führerscheins für eine kostenlose Nutzung des Nahverkehrs im Landkreis Ludwigsburg vom Verkehrs- und Tarifverbund Stuttgart beworben, seit 2020 im Kreis Esslingen und der Landeshauptstadt Stuttgart. Ergebnis: 5.300 Personen haben seitdem mitgemacht. Von mehr als 330.000 über 65-Jährigen, die dort leben. Weil Hinterbüchelberg überall ist.
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