Sitzungspause in Berlin und Aktivismus in Brüssel – Wie der ländliche Raum zu beschreiben ist

Gedanken, Anmerkungen und Beobachtungen mit subjektivem Blick auf diese Woche

 

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Liebe Leserinnen und Leser,

 

nach all den Aufregungen um den laufenden und auch schon den nächsten Haushalt atmet Berlin erst einmal durch. Im Westen und Südwesten ist in diesen Tagen Karneval. Das bindet den einen oder anderen Abgeordneten in seiner Heimat. Der Bundesgesundheitsminister, der in der närrischen Hauptstadt am Rhein seinen Wahlkreis zu pflegen hat, begründet so seine ressortfremde Anwesenheit bei der Eröffnung des neu gebauten ersten Teils der Autobahnbrücke zwischen Leverkusen und Köln. Politische Hauptfigur war dort Ministerpräsident Hendrik Wüst, der das zu Straßenfreigaben gehörende Band zerschneidet – eine Lieblingsbeschäftigung von Regierenden. 

 

Jost Springensguth
Jost Springensguth

Seit zwölf Jahren hat diese Brücke verkehrspolitisch für Verdruss gesorgt. Nicht nur bei denen, die seitdem mit ihrem Lkw im Stau standen oder Umleitungen zu fahren hatten. Sondern auch unter den Verkehrspolitikern, zu denen Wüst gehörte, als er zuständiger Landesminister war. Diese Brücke gilt als Symbol für das, was an Reparaturen und Ersatzbauten in den Verkehrssystemen Brücken, Schienen und Straßen noch vor uns liegt. Dabei geht neben dem Ballungsverkehr insbesondere auch um die Anbindung und die Versorgung der Kreise, Städte und Gemeinden im ländlichen Raum. Wir werden weiter daran arbeiten, dass das nicht in Vergessenheit gerät.

 

Im Übrigen erinnert mich das an unser Anliegen, regelmäßig Zusammenhänge und Entwicklungsnotwendigkeiten für die Regionen zu thematisieren, in denen auch die Nutzung natürlicher Lebensgrundlagen Ausgangspunkt für Leben und Arbeiten der Menschen ist. Nach Beschreibung des Bundesministeriums für Landwirtschaft und Forsten lebt über die Hälfte der bundesdeutschen Bevölkerung in ländlichen Regionen (57 Prozent). „Auch ist hier der überwiegende Anteil unserer mittelständischen Wirtschaft mit Handwerk, Industrie und Dienstleistungen angesiedelt. Fast die Hälfte des deutschen Bruttosozialprodukts (46 Prozent) wird auf dem Land erwirtschaftet. Auch die regionale Vielfalt unserer Lebensmittel wird in den ländlichen Räumen erzeugt. Die dezentrale Struktur ist eine besondere Stärke Deutschlands.“ So heißt es dort weiter. In der Tagespolitik scheint dieses Gewicht manchmal in Vergessenheit zu geraten.

 

Ein vergleichbarer thematischer Blick nach Großbritannien

 

Diese Feststellung scheint nicht nur für unser Land zu gelten, wie die Bauernproteste nicht nur bei uns, sondern auch in verschiedenen Nachbarländern zeigen. Das gilt mit Blick auf Großbritannien (jetzt) auch außerhalb der EU und dennoch in Europa. Dort meldet sich regelmäßig die Organisation „Countryside Alliance“ ähnlich wie wir in Veröffentlichungen und Newslettern zu Wort. Und sie wirbt wie wir um weitere Unterstützer wie eine Bürgerinitiative mit diesem Anliegen: Einsatz für ländliche Gemeinden, die Landwirtschaft, nachhaltige Lebensmittelproduktion, Unterstützung ländlicher Unternehmen und lokaler Wirtschaft und Schutz von Lebensräumen der Wildtiere. Tim Bonner, der Verantwortliche der Alliance, schreibt zu den Zielsetzungen: „Stimme des ländlichen Raums zu sein und Kampagnen zu verstärken.“

 

Wie schon bemerkt, hat der Bundestag Sitzungs- und vielleicht auch Atempause. Die Regierungsflieger sind allenfalls in außenpolitischen Missionen unterwegs. Sie sind aktuell vom Bundespräsidenten (Mongolei), Bundeskanzler (USA) oder Robert Habeck (Algerien) gebucht. 

 

Öko-Umbau und „Kraftwerksstrategie“: Geld spielt keine Rolle

 

Eine wirtschafts- und energiepolitische Ausnahme machte der Wirtschafts- und Energieminister mit der Vorstellung einer neuen „Kraftwerksstrategie“ der Bundesregierung, die offensichtlich nicht alle überzeugt, die von Energiepolitik etwas verstehen. Um nach Abschaltung der Kernkraft die verbliebenen Kohlekraftwerke auch vom Netz zunehmen, soll der Bau von später wasserstofffähigen Gaskraftwerken gefördert werden. In der Neuen Zürcher Zeitung bezeichnete der Energieökonom Manuel Frondel das als „teure Symbolpolitik“.  

 

Michael Lehner, der sich in unserem Blog regelmäßig auch mit der Politik des Wirtschafts- und Energieministers befasst, bemerkt dazu: Die eben vorgestellte „Kraftwerksstrategie‟ des Bundeswirtschaftsministeriums bleibt dem fatalen Grundsatz treu, dass Geld kaum eine Rolle spielt beim Öko-Umbau der deutschen Energieversorgung. Nun soll es der „Grüne Wasserstoff‟ richten, der in Klimawende-Kreisen vor Jahresfrist noch als Teufelszeug gegolten hat. Auch wegen der unerwünschten Optionen, damit Verbrenner-Autos und herkömmliche Gasheizungen klimaneutral zu betreiben. Helfen soll dieser teure Brennstoff gegen die „Dunkelflaute‟, die dem Stromnetz droht, wenn Windstille und Finsternis zugleich dafür sorgen, dass die Produktion erneuerbarer Energien mal nicht ausreicht, um den Bedarf zu decken.

 

Aber statt Wasserstoff einfach ins bestehende (und bezahlte) Gasnetz einzuspeisen, sollen (mindestens) zehn Reserve-Gaskraftwerke gebaut werden, für die der Steuerzahler geschätzt zehn Milliarden Euro Subventionen locker machen müsste. Was wohl noch nicht die ganze Wahrheit sein dürfte, wenn den privaten Betreibern auch der Strom vergütet wird, den sie gar nicht produzieren, weil Windkraft und Photovoltaik zunehmend den gesamten Bedarf decken. Speziell im deutschen Norden verschärft sich so die groteske Situation, dass überschüssige Windenergie mangels leistungsfähiger Stromleitungen in den Süden nach Dänemark verschenkt werden muss und dort zu Wasserstoff verarbeitet wird, der dann zum Betrieb der Reservekraftwerke teuer zu bezahlen ist.

 

Foto: NakNakNak
Foto: NakNakNak

EU-Kommission: Klimawandel bei den Themen des Green Deal

 

Derweil war in Brüssel in dieser Woche Hochbetrieb. Dabei blicken die Europapolitiker bereits intensiv auf die Europawahl vom 6. bis 9. Juni. Ludwig Hintjens, der für uns regelmäßig Themen aus Brüssel und Straßburg liefert, berichtet in unserer wöchentlichen Redaktionskonferenz: Seit dem vergangenen Frühling ist ein Klimawandel bei den Themen des Green Deal in der EU-Kommission zu beobachten. Der Abgang von Vizepräsident Frans Timmermans vor der Sommerpause letzten Jahres war eine Zäsur für den Green Deal. Seitdem ist deutlich, dass jetzt die Kommission unter Führung von Ursula von der Leyen bei dem zentralen Projekt, dem Umbau der Volkswirtschaft nach den Kriterien von Klimaschutz und Nachhaltigkeit, bremst. Vor allem bei den Agrarthemen, bei denen es auch um den Artenschutz geht, werden Gesetzesvorschläge entschärft, zurückgezogen oder auf die nächste Wahlperiode verschoben. So wurde die SUR-Verordnung, die eine Halbierung des Pestizideinsatzes bis 2030 vorsah, gerade offiziell von der Kommission beerdigt. Sie ließ durchblicken, dass der Vorschlag aus ihrer Sicht Mängel hatte. Die angekündigte Tierschutzreform und den Vorschlag für ein nachhaltiges Lebensmittelsystem legte sie erst gar nicht vor. Die Chemikalienverordnung REACH wurde ebenfalls von der Tagesordnung genommen. Das angekündigte Bodenschutzgesetz wurde weitgehend entschärft. Auch beim EU-Klimaziel für 2040, das eine Reduzierung des CO₂-Ausstoßes um 90 Prozent gegenüber 1990 vorsieht, spart die Kommission die Landwirtschaft aus, wenn es um die Konsequenzen geht.

 

Und noch ein Wort zu den Demonstrationen

 

Dann sind da noch die laufenden Proteste in der begründeten Sorge um unsere Demokratie in Freiheit. Der CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann schrieb Donnerstag dieser Woche in einem Mitgliederbrief: „Die aktuellen Demonstrationen richten sich gegen Rechtsextremismus, nicht gegen rechts.“ Das ist wohl so zu verstehen, nicht alles in einen Topf zu werfen – vor allem auch nicht Wähler und das, was Offizielle der AfD von sich geben. In der WAZ hat sich der Vize-Chefredakteur Alexander Marinos eine herausgegriffen, die im Bundestag das unsägliche Zitat gesetzt hat: „Diese Regierung hasst Deutschland.“ Marinos hat sich in seinem Kommentar die Klartext-Frage erlaubt, ob „die Dame noch alle Tassen im Schrank“ habe. 

 

Das lassen wir dann mal für dieses Wochenende so stehen. Und so ein Satz könnte auch im Karneval fallen – vielleicht etwa in der Kölner Stunksitzung. Wo es passt, wünsche ich für dieses Wochenende „Alaaf“ oder „Helau“ zusammen mit denen, die vor Kamelle und Konfetti flüchten, etwas weniger Regen fürs Freizeitvergnügen. 

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