Lohnt es sich, stillgelegte Bahnstrecken zu reaktivieren?

Zwei Verbände wollen Millionen Menschen im ländlichen Raum wieder ans Schienennetz anschließen. Die Kosten und Rahmenbedingungen sollten sorgfältig geprüft werden

Foto: SLPix
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Von Christian Urlage

 

„Die Bahn muss in ganz Deutschland zum Rückgrat der Mobilität werden – auch im ländlichen Raum.“ Diese Forderung findet sich im Koalitionsvertrag der Ampel, auf den sich SPD, Grüne und FDP am 21. November 2021 geeinigt haben. Zwei Branchenverbände dürften diese Forderung vorbehaltlos unterstützen: der Verband deutscher Verkehrsbetriebe und die Allianz pro Schiene, gegründet von drei Eisenbahngewerkschaften und den Umweltverbänden BUND und NABU. Seit Jahren setzen sie sich für die Belange der Bahn ein – jetzt wollen sie erreichen, dass Millionen Menschen im ländlichen Raum wieder ans Schienennetz angeschlossen werden.

 

Die Geschäftsführer Dirk Flege von der Allianz pro Schiene und Martin Henke vom Verband deutscher Verkehrsbetriebe sprachen sich kürzlich in Berlin vor Journalisten dafür aus, vorhandene Strecken zu reaktivieren. Das sei billiger, als neue Strecken zu bauen, lautet ihr nachvollziehbares Argument, denn Trassenflächen und Bahndämme sind oft noch vorhanden. Die beiden Schienenlobbyisten verweisen zudem darauf, dass fast alle Bundesländer Machbarkeitsstudien in Auftrag gegeben haben. Oft seien die Gutachter zu positiven Ergebnissen gekommen. Tausende von Kilometern Schienenweg könnten wieder ans Bahnnetz angeschlossen werden, meint Geschäftsführer Flege. Eine reichlich optimistische Prognose. Deren Umsetzung sollte jedoch kritisch geprüft werden.

 

Rückenwind für die Lobbyisten des Bahnverkehrs

 

Tatsache ist, dass aus wirtschaftlichen Gründen jahrzehntelang Strecken stillgelegt worden sind, zumindest im Personenverkehr, manchmal auch im Güterverkehr. Sie wurden aus dem Verkehr gezogen, weil sie zu teuer waren und sich nicht mehr lohnten. Busse ersetzten den Schienenverkehr. Doch die Zeiten haben sich geändert: Das erheblich gestiegene Klimabewusstsein wirkt wie Rückenwind für die Lobbyisten des Bahnverkehrs. Trotz häufiger Unpünktlichkeit, ausfallenden Zügen, mangelndem Service und unzureichender Digitalisierung nimmt bei der Bahn die Zahl der Kunden jährlich zu. Und parteiübergreifend sprechen sich Landespolitiker für die Reaktivierung von Strecken aus. Bis es dazu kommt, kann es jedoch lange dauern.

 

Wer die Pendler aus den Dörfern und Kleinstädten in nennenswerter Zahl vom Auto auf die Bahn umleiten will, muss mehrere Hürden überspringen. Zum Beispiel sollte garantiert sein, dass der Personenverkehr auf den Gleisen langfristig gesichert ist und voraussichtlich schwarze Zahlen schreiben wird. Und auf den Fahrplan müssen sich die Reisenden verlassen können. Aber schon heute fallen oft genug Züge aus, weil Personal fehlt.

 

Lärmschutz und Sicherheitsstandards müssen geklärt sein

 

Die Investitionskosten, die zu zahlen sind, bis das Schienennetz wieder in Betrieb geht, sind nur ein kleiner Teil der Ausgaben. Der Hauptteil der Kosten entfällt auf den späteren Zugbetrieb. Er wird sich nur rechnen, wenn genügend Fahrgäste das Angebot annehmen. Sonst dürfte in vielen Fällen der Busverkehr gerade in dünn besiedelten Regionen preisgünstiger sein und zugleich umweltfreundlicher. Und ehe der erste Zug den Bahnhof verlässt, müssen der Lärmschutz und die Sicherheitsstandards etwa an Bahnübergängen geklärt sein. Die Regelungen sind heute schärfer als noch vor Jahrzehnten.  

 

In manchen Fällen, wie zum Beispiel bei der Usedomer Bäderbahn, hat sich die Reaktivierung gelohnt und sich das Angebot im Öffentlichen Personennahverkehr in der Fläche verbessert. Aber längst nicht immer ist es zukunftsfähig, alte Schienen aufzupolieren und wieder in Betrieb zu nehmen.

 


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