Und die Provinz feiert Aiwanger …

Warum der Chef der Freien Wähler nach dem Flugblatt-Skandal nicht ums politische Überleben fürchtet und beim Gillamoos gefeiert wurde

Hubert Aiwanger (Foto: fw-bayern.de)
Hubert Aiwanger (Foto: fw-bayern.de)

 

Von Michael Lehner

 

Jugendsünde her oder hin: Das Flugblatt aus Hubert Aiwangers Schulranzen ist ein Schmierenstück. Nicht nur, weil es die Opfer des Nazi-Massenmords beleidigt. Sondern auch – und bisher wenig beachtet – weil der Text sich gegen „Vaterlandsverräter“ richtet. Womit in diesem Zusammenhang wohl nur der Widerstand gegen das Hitler-Regime gemeint sein kann.

 

Böswillige mögen behaupten, dass es den Befindlichkeiten in der bayerischen Provinz geschuldet sei, wenn Aiwanger eine Woche nach den ersten Schlagzeilen wieder hoch erhobenen Hauptes durch die Bierzelte marschiert. Solche Deutung verkennt, dass der Chef der Freien Wähler nicht wegen der unsäglichen Worte gefeiert wird, sondern trotz des Skandals. Und trotz des grottenschlechten Krisenmanagements, das dennoch irgendwie zu Aiwanger passt. In Wahrheit würde ihm seine beträchtliche (und weiter wachsende) Anhängerschaft fast alles verzeihen. So sehr trifft seine Politik den Nerv der Menschen auf dem flachen Land.

 

Die Konkurrenz – auch bei der CSU – muss spätestens im aktuellen Geschehen erkennen, dass die Freien Wähler ein Publikum bedienen, das die sogenannten Volksparteien zunehmend aus dem Blick verlieren: Abgehängt, nicht nur vom öffentlichen Nahverkehr. Gerne bevormundet von großstädtischer Überheblichkeit, zumal in Fachfragen der Landwirtschaft oder auch der energetischen Gebäudesanierung. Solche Schwäche macht Aiwangers Stärke aus. Auch deshalb – und mangels Beweisen – musste Markus Söder seinen Wirtschaftsminister halten. Einen Tag nach der Entscheidung des Ministerpräsidenten versammelte sich die Politprominenz beim Höhepunkt des Bierzeltwahlkampfes in der bayerischen Provinz, dem Volksfest Gillamoos in Abensberg. Hier ging am Montag Aiwanger auf die Vorwürfe gegen ihn gar nicht erst ein – er wurde von seinen Anhängern gefeiert.

 

Bisher hatten nur die Freien Wähler nennenswerte Zuwächse

 

Zumindest bis zum Ruchbarwerden des Flugblatts waren die Freien Wähler – neben der AfD – die einzige Partei mit nennenswerten Zuwächsen in den Wahlumfragen. Die Arbeiterpartei SPD – früher durchaus mit Hochburgen in den Industrieregionen der bayerischen Provinz – dümpelt unterhalb der 10 Prozent. Die CSU, einst abonniert auf absolute Mehrheiten, wäre schon mit 40 Prozent sehr zufrieden. Der einstige Höhenflug der Grünen reduziert sich auf eine kleiner werdende Großstadt-Blase.

 

Dass die AfD anders als in den Nachbarbundesländern Sachsen und Thüringen nur verhalten von solcher Schwäche profitiert, muss also an den Freien Wählern liegen. Womöglich nutzt diesen sogar der Versuch, ihren Vorsitzenden mit einem 35 Jahre alten Flugblatt in die ganz rechte Ecke zu drängen. Partei-Strategen, die fieberhaft nach Rezepten gegen den AfD-Höhenflug suchen, sollte solcher Umstand zu denken geben. Seit sogar die CSU versucht, eine moderne Partei zu werden, schwinden die Alternativen für Konservative im demokratischen Parteiengefüge.

 

Selbst Aiwangers Satz, dass sich das Volk die Demokratie zurückholen müsse, findet im Urteil der Verfassungsrichter zur unzureichenden parlamentarischen Behandlung etwa beim Gebäudeenergiegesetz Bestätigung. Solche Einwände schaden der Demokratie auch dann nicht, wenn sie sogar bei CSU-Chef Markus Söder wie eine Majestätsbeleidigung ankommen. Im Gegenteil zeigen sie, dass das Volk die Macht hat, schlampig gemachte Gesetze mit demokratischen Mitteln zu stoppen.

 

Rund die Hälfte der Deutschen lebt in der Provinz. Viele von ihnen wünschen sich, dass die Kirche im Dorf bleibt und das Schnitzel auf den Speisekarten. Ihre demokratischen Traditionen reichen zurück bis in die Zeit der Bauernkriege. Und ihre vermeintliche Rückständigkeit ist nicht selten dem Bewahren des Bewährten geschuldet. Bis hin zum Umstand, dass sogar die meisten Umweltprobleme vor allem die Metropolen betreffen. Solange sich an der verengten Sicht auf die Provinz nichts ändert, werden Leuten wie Aiwanger wohl auch die schlimmsten Jugendsünden nachgesehen.

 


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