„Der stille Abschied vom bäuerlichen Leben“

Ewald Frie schreibt in „Ein Hof und elf Geschwister“ über das Leben seiner eigenen Familie. Dafür ist er zu Recht mit dem Deutschen Sachbuchpreis geehrt worden

Ein einsamer Bauernhof (Symbolbild: Rainer Klinke / pixelio.de)
Ein einsamer Bauernhof (Symbolbild: Rainer Klinke / pixelio.de)

 

Von Christian Urlage

 

Dieses Werk ist ein Bestseller, inzwischen in siebter Auflage erschienen, und es hat die Auszeichnung wahrlich verdient: „Ein Hof und elf Geschwister. Der stille Abschied vom bäuerlichen Leben in Deutschland“ bekommt den Deutschen Sachbuchpreis 2023 für seine „persönliche und überraschende Perspektive“, wie die Jury am 1. Juni urteilte. Geschrieben hat das detailfreudige, anschauliche Buch der Landwirtssohn Ewald Frie, ein renommierter Historiker in Tübingen, der das Leben seiner eigenen Familie schildert. Aufgewachsen ist er in der Bauerschaft Horst bei Nottuln, 25 Kilometer von Münster entfernt. 

 

Quelle: C.H.Beck
Quelle: C.H.Beck

Es ist ein bemerkenswert sensibles Werk zur Alltags- und Mentalitätsgeschichte der deutschen Nachkriegszeit. Auf 170 Seiten erzählt der Geschichtsprofessor in verständlicher Sprache, wie sich der ländliche Raum seit den 1950er Jahren wandelte: was die Bauerschaft vom Dorf unterschied, wie die harte Knochenarbeit in der Landwirtschaft allmählich verschwand und die Zeit der familienfremden Arbeitskräfte endete. Wie die künstliche Rinderbesamung den Zuchtviehmarkt revolutionierte. Wie aus der Haus- und Kirchenfrömmigkeit der Reformkatholizismus entstand und was die Einführung von Traktoren, Miststreuern und anderen Maschinen auf dem Hof bedeutete. Und wie einst wohlhabende Bauern trotz aller Modernisierung in den 1970er Jahren plötzlich als ärmlich und rückständig galten.

 

Die Lebenswelt der Rinderzüchter

 

Frie beschreibt seinen Vater als einen Menschen, der von ganzem Herzen Bauer war und dessen Lebenswelt die der Rinderzüchter war. Seine Mutter, „marienfromm und bildungshungrig zugleich“, besuchte Kurse und Veranstaltungen an katholischen Heimvolkshochschulen und Akademien und bildete sich so fort. „Meine Mutter schuf sich hier ihren Raum“, schreibt der Historiker. „Er war der bäuerlichen Welt noch verbunden, richtete sich aber auf die Gemeinde und das Dorf hin aus.“ Für ihre Kinder wies die katholische Kirche mit der Dorfbücherei und neuer Jugendarbeit ebenfalls den Weg aus der bäuerlichen Welt.

 

 

Der Historiker stützt sich bei seinen profunden Analysen auf Interviews, die er mit seinen Geschwistern geführt hat. Sein ältester Bruder wurde 1944 geboren, seine jüngste Schwester 1969. Wegen des Abstands von 25 Jahren machten sie völlig unterschiedliche Erfahrungen, zum Beispiel bei der Gestaltung von Freizeit und Urlaub. Seinen älteren Brüdern war es nicht erlaubt, Fußball zu spielen. Sie sollten zum Reiterverein, weil nur dies für Bauern als standesgemäß galt. Ewald Frie selbst, Jahrgang 1962, durfte dann schon kicken.

 

Geschichte wird sonst fast immer von Städtern erzählt

 

Die Antworten seiner Geschwister kombiniert der Autor mit Berichten aus dem Landwirtschaftlichen Wochenblatt für Westfalen und Lippe sowie historischen Aufsätzen und Büchern. Am Ende ist allein der älteste Bruder geblieben, die anderen haben den Hof verlassen. „Wir rochen nicht mehr nach Kühen, Schweinen und Silage“, schreibt Frie. Als Wissenschaftler kennt er noch die mittlerweile versunkene bäuerliche Welt, und das ist gut so. Denn auch sie ist ein Teil der Geschichte der Bundesrepublik, die sonst fast immer aus der Sicht von Städtern geschildert wird.

 


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