Der „alte Herr“ ist not amused: Özdemir ante portas

Auch wenn der Ministerpräsident die Spitzenkandidatenfrage für verfrüht hält: Immer mehr Grüne setzen für die Nach-Kretschmann-Zeit auf den Landwirtschaftsminister

Bundeslandwirtschaftsminister Cem Özdemir (Foto: © BMEL/Photothek)
Bundeslandwirtschaftsminister Cem Özdemir (Foto: © BMEL/Photothek)

 

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Von Wolfgang Molitor 

 

Der alte Herr ist not amused. Die Debatte über seine Nachfolge sei „eine Frage zur Unzeit“, grummelt Winfried Kretschmann. Das kann man nachvollziehen. Immerhin verspricht der bald 76-Jährige, den Rest der Legislaturperiode als baden-württembergischer Ministerpräsident „kraftvoll auszuüben“. Er wolle noch regieren und er werde das auch tun, sagt Kretschmann, seit nunmehr 13 Jahren öko-gereifter und hochpopulärer Landesvater. Also noch weitere zwei Jahre.

 

Doch die Nachfolgefrage nimmt Fahrt auf. Unaufhaltsam. Unvermeidlich. Denn dass es einen gibt, der ihn beerben könnte, ist bekannt. Cem Özdemir, der nicht nur von Bauernprotesten gestresste Bundeslandwirtschaftsminister, tourt seit vielen Wochen auffallend häufig und mit offenkundigem Vergnügen durch den Südwesten. Der gebürtige Schwabe mit türkischen Wurzeln ist längst aus dem Schatten der aussichtsreichen Landes-Grünen hervorgetreten. Und so lautet die Frage eigentlich nicht, ob Özdemir seine Kandidatur bekannt gibt, sondern wann. Am Bekanntheitsgrad jedenfalls müsste der wendige 58-Jährige nicht mehr arbeiten. Anders als der 35-jährige Manuel Hagel, den die CDU wohl aussichtsreich 2026 ins Rennen schicken dürfte.

 

Özdemirs Spitzenkandidatur ist indes beileibe kein Selbstläufer. Kretschmann lässt ungewohnt deutlich durchblicken, dass er nicht als lahme Ente aus dem Amt scheiden will. Schon gar nicht vorzeitig, zumal die Koalitions-CDU bereits erklärt, für diesen Fall einen grünen Nachfolger nicht mitzuwählen. Özdemir sei „hochgradig“ als Agrarminister beschäftigt, „voll im Saft und voll gefordert“, sagt Kretschmann. Was so viel heißt: Er soll sich im Bund erst einmal um seinen eigenen Laden kümmern, statt im Land mit hoher Präsenz die Kandidaten-Stimmung auszuloten.

 

Ohnehin müssen die Grünen darauf achten, Özdemir nicht zu früh zur Kandidatur zu drängen. Würfe Özdemir vor der nächsten Bundestagswahl seinen Hut in den Ring, könnte das so wirken, als ob der Grüne die Hoffnung auf eine weitere Regierungsbeteiligung in Berlin fahren ließe. 

 

Jetzt kommen erst einmal Kommunalwahlen als Test

 

Wichtiger noch sind die Kommunalwahlen, die am Tag mit der Europawahl am 9. Juni in Baden-Württemberg erste belastbare Rückschlüsse auf die grünen Perspektiven zulassen dürften. 

 

Seit längerem liegen Kretschmanns Mannen und Frauen in den Umfragen wieder hinter der CDU, weit entfernt von den sagenhaften 32,6 Prozent von 2021. Jeder im Ländle weiß, dass Grün ohne Kretschmann deutlich weniger wert ist und jeder Nachfolgeaspirant ernsthaft damit rechnen muss, dass seine Partei nach 15 Jahren nicht mehr den Ministerpräsidenten stellen könnte. Kretschmann ist schließlich eine Nummer für sich. Özdemir her oder hin.

 

Die Landespartei wäre zurzeit schon froh, hielten sich die kommunalen Verluste im Rahmen. Bei der letzten Kommunalwahl erzielte die von Kretschmann massiv und höchst erfolgreich in die bürgerliche Mitte gelenkte Partei da 17,2 Prozent. Das war hinter den Freien Wählern und der CDU nur Platz 3. In 450 Kommunen standen damals grüne oder grün-nahe Listen auf dem Wahlzettel. Doch auch, wenn es jetzt um die 500 sein werden: Eine feste kommunale Verwurzelung ist den Grünen trotz des grau-grünen Landesvaters im vergangenen Jahrzehnt nicht gelungen. In den 1101 Gemeinden Baden-Württembergs gibt es nur acht direkt gewählte grüne Bürger- und Oberbürgermeister. Zwar meldet die Partei mit rund 17.750 Mitgliedern so viele Mitglieder im Land wie noch nie. Doch die Neuen sind oft keine Kretschmann-Fans, sondern eher jung, links orientiert, klimaaktiv und programmfixiert. Ob ausgerechnet der mittige Özdemir bei ihnen punkten könnte, scheint ungewiss.

 

Nicht zu früh, nicht zu spät: Auf die Südwest-Grünen warten schwierige Zeiten. Viel wird davon abhängen, ob sie einen klugen Zeitpunkt finden, um den erhofften Kretschmann-Nachfolger zu platzieren. Ohne den Ministerpräsidenten intern zu entmachten, ohne ihn, den Beliebten, auf den letzten Amtszeitmetern zu beschädigen. Und ohne die grün-schwarze Koalition, auch nach Kretschmann als schwarz-grünes Bündnis nicht unmöglich, über Gebühr zu belasten. 

 

Sicher ist nur: Eine lange offen gehaltene Nachfolgefrage wird die Partei (und wohl auch Kretschmann selbst) über zwei Jahre nicht unbeschadet durchhalten. Özdemir wird nicht umhinkommen, weit vor dem Wahljahr 2026 Farbe zu bekennen. Auch auf die Gefahr hin, mehr mit bundespolitischen Risiken belastet als mit landespolitischen Chancen beladen zu sein.

 


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