Der Zeitgeist spaltet das Land

Dass die Gesellschaft in den USA auseinanderbricht, ist deutsche Medien-Wirklichkeit. Über die Brüche im eigenen Land wird nicht so gern gesprochen

Foto: ideogram.ai
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Von Michael Lehner

 

Es gibt viele Felder, auf denen die Meinungsvielfalt zur Meinungseinfalt zu verkommen droht. Zumal in der urbanen „Blase“. Wo Lastenfahrräder zum Status-Symbol werden. Wo vom kostenlosen Nahverkehr mit Bus und Bahn geträumt wird. Wo horrende Mieten die Geringverdiener aus den Szene-Vierteln vertreiben. Und wo sich der Kultur-Begriff auf hoch subventionierte Theater und Konzerthäuser verengt. Wo „Freiwillige Feuerwehr“ zum Fremdwort wird. Und Nachbarschaft oft nur noch unter Gleichgesinnten stattfindet.

 

Auf dem Land ist manches noch anders. Laien machen die Musik und spielen Theater. Freiwillige löschen Brände und bergen Unfallopfer. Am Stammtisch herrscht noch Meinungsvielfalt. Äußerst selten, dass Menschen über Wochen tot in ihrer Wohnung liegen, ohne dass die Nachbarn es bemerken. Und kein Grund für schiefe Blicke, wenn Nachbarn auf ihr Auto angewiesen sind, um zur Arbeit zu fahren und ihre Sprösslinge an Sport und Spiel zu beteiligen. Noch kommen Normalverdiener mit dem Geld über die Runden, auch weil die Ansprüche sich (noch) an den eigenen Möglichkeiten orientieren.

 

Aufs Land gezogene Großstädter beklagen neben Glockengeläut und Misthaufen-Geruch oft auch den Dorf-Tratsch. Aber der sorgt wie nebenbei für sozialen Frieden und dafür, dass die Fürsorge-Ausgaben im Dorf-Haushalt überschaubar bleiben. Kaum einer bleibt lang anonym, wenn er Mitmenschen aus Faulheit auf der Tasche liegt. Logisch, es gibt Denkverbote. Etwa das verbreitete Unverständnis für die Idee, dass das Holz im Wald verrotten soll, statt verheizt zu werden. Oder die Angst, dass Weide-Vieh das Klima kaputtfurzen könnte.

 

Wie sehr die größeren Städte den Menschen in der Provinz auf der Tasche liegen, zeigt beispielhaft der öffentliche Personennahverkehr, von dem das flache Land nur marginal profitiert. Zur Verschuldung der öffentlichen Hände hat allein dieser Posten im vergangenen Jahr neun Milliarden Euro beigetragen. Die Etats für Wohngeld zur Finanzierung astronomisch hoher Mietzinsen oder von Jugendhilfe haben ebenfalls ein steiles Stadt-Land-Gefälle. Auch das erklärt die Wut über urbanes Unverständnis für die Traktor-Proteste zum Erhalt der Agrardieselsubvention von jährlich rund 440 Millionen Euro. Zum Vergleich: Insgesamt kalkuliert der Bund mit Subventionen von fast 66 Milliarden Euro, die Löwenanteile für Gewerbe und Industrie, Wohnen und Verkehr.

 

Wirklichkeitsfremde Stadtmenschen ereifern sich

 

Während sich wirklichkeitsfremde Stadtmenschen über vermeintlich horrende Bauern-Einkommen ereifern, finden selbst kinderreiche Landwirtsfamilien keine Hofnachfolger. Die Sehnsucht nach angenehmer Work-Life-Balance geht auch an Dörfern nicht schadlos vorüber. Nur selten Freizeit am Wochenende und kaum Chancen auf eine Sommer-Urlaubsreise, das passt irgendwie nicht mehr in die Welt, die TV und Internet bis in abgelegene Winkel tragen. Vorurteile inklusive. Manche flüchten in die Bio-Nische und merken nun entsetzt, dass der Discounter-Preiskampf mit den Erzeugern längst auch dort angekommen ist. 

 

Wer sich für den Tierwohl-Stall verschuldet hat, muss den veganen Zeitgeist fürchten. Pendler haben das Problem, dass die heimische Industrie viele Jahre lieber Luxusschlitten produzierte – statt Autos für Normalverdiener, die nun der Elektroauto-Preisschock endgültig in die Umweltsünder-Ecke treibt: Weiter den alten Diesel fahren? Oder statt zur Arbeit zu pendeln, lieber daheim bleiben und von Bürgergeld und Schwarzarbeit leben? Statt brav Steuern zu zahlen und dem Wirtschaftsminister zu helfen, dass er die Industrie-Subventionen nicht komplett auf Pump finanzieren muss? Wo doch längst am Sozialen gespart wird und das versprochene Klimageld wie auch die Kindergrundsicherung wohl noch länger auf sich warten lassen.

 

Kulturlandschaft meint die von Menschenhand gemachte Natur

 

Die beteiligten Wirtschaftszweige mitgerechnet, ist die Versorgung mit Nahrungsmitteln nicht nur nach Arbeitsplätzen mindestens so wichtig wie die Autoindustrie. Und im gern beschworenen Krisenfall weit weniger entbehrlich als Batterie-Fabriken oder Mikro-Chips. Ganz nebenbei sollte auch Stadtmenschen klar sein, dass Land- und Forstwirtschaft der Umwelt mehr nützen als schaden. Mit nachgewiesener Artenvielfalt in der Kulturlandschaft und der massenhaften Verwandlung von Kohlendioxid in Biomasse. Wobei in Vergessenheit gerät, dass Kulturlandschaft die von Menschenhand gemachte Natur meint  – und nicht den Urwald, der die meisten Menschen beim Überleben überfordert.

 

Wie schon angedeutet, ist die Provinz der Großstadt auch beim gängigen Kulturbegriff durchaus ebenbürtig. Parade-Beispiel sind die Passionsspiele von Oberammergau. Vom heimischen Feuilleton lange belächelt, bis die halbe Welt entdeckte, was da im engen Tal der Ammer abgeht: ein Orchester von Rang. Ein Herrgottsschnitzer als Regisseur, der die Feier zur Fußball-Weltmeisterschaft inszenierte und in Salzburg den „Jedermann“. Der in München das Volkstheater so auf Vordermann brachte, dass es ohne Subventionen auskommt. Sicher ist dieser Christian Stückl mit seinen Laien-Künstlern herausragend, aber weitere Beispiele für gelebte Dorf-Kultur gibt’s reichlich. Es gilt vor lauter Naserümpfen über Stallgeruch und Volksgläubigkeit die Augen nicht zu schließen.

 


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