Jede Neuwahl ist eine Notlösung

Das Drängen nach einer vorgezogenen Bundestagswahl entbehrt jeder Voraussetzung – In Baden-Württemberg blicken die Grünen mit Hoffnung und Zweifel auf Cem Özdemir

Bundeslandwirtschaftsminister Cem Özdemir (Foto: © BMEL/Photothek)
Bundeslandwirtschaftsminister Cem Özdemir (Foto: © BMEL/Photothek)

 

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Von Wolfgang Molitor

 

Der Ruf aus der Union, die nächste Bundestagswahl auf 2024 vorzuziehen, ist parteipolitisches Geplapper. Ein wohlfeiles Haschen nach verunsichernder Aufmerksamkeit, der billige Versuch, sich als Kanzlerpartei ins Gespräch zu bringen und eine Aus-dem-Stand-Stärke vorzutäuschen. Dabei wissen Markus Söder und Friedrich Merz: Noch ist die Zeit zum aufgesetzten Muskelspiel nicht reif. Nicht zuletzt deshalb, weil eine deutliche Mehrheit der Wähler zwar keinen wie Olaf Scholz mehr an der Regierungsspitze sehen will, aber auch der Ruf nach einem CDU-Kanzler nicht wie Donnerhall durch die Republik rollt.

 

Jede Neuwahl ist eine Notlösung. Sie setzt in einer wie auch immer zusammengewürfelten Koalition eine öffentliche Zersetzung von Absprachen und damit einen unwiderruflichen Vertrauensverlust voraus. Nicht zu vergessen: auch eine zu erwartende neue stabile Parlamentsmehrheit. Anfang 2024 sieht es nicht danach aus, als ob beide Komponenten in ausreichendem Maß vorliegen. Im Gegenteil. Wenn es um Neuwahlen geht, passt auch in Old Germany ein Spruch aus den USA: „Das Einzige, was wir aus neuen Wahlen lernen, ist, dass wir nichts aus den alten Wahlen gelernt haben.“

 

Einflussreiche Wirtschaftsverbände beurteilen die politische Lage nüchtern. Es brauche nicht noch mehr Unruhe durch Neuwahlen, sagt Dirk Jandura, der Präsident des Großhandel- und Dienstleistungsverbandes, nötig sei jetzt vielmehr eine Bundesregierung, die sich der Realität stelle. Recht hat er, auch wenn bezweifelt werden darf, ob die Ampel für diese Mahnung die richtige Adresse ist. Auch die Deutsche Industrie- und Handelskammer urteilt pragmatisch: Bei Neuwahlen verlöre Deutschland durch eine Hängepartie, den Wahlkampf und wachsende Unsicherheiten viel Zeit. Ausgang offen.

 

Wer nicht durchregieren kann, setzt aufs Durchhalten

 

Noch hat niemand ein ernsthaftes Interesse an einer Neuwahl, deren Voraussetzungen in den Artikeln 63 und 68 des Grundgesetzes überdies dem Worte nach unmissverständlich und in engem Interpretationsrahmen geregelt sind. Weder die desaströsen Umfragewerte von SPD und Grünen, erst recht nicht die der FDP, lassen die Ampelkoalitionäre übermütig werden, ihr Stückwerk vorzeitig den Wählern zur gefälligen Beurteilung vorzulegen. Das Ende der Ampel wäre zudem ein endgültiges Aus für jenes dreifarbige Experiment, das schon jetzt den faulen Atem der Vergänglichkeit verströmt. Wer nicht durchregieren kann, setzt eben aufs Durchhalten. 

 

In Baden-Württemberg fallen die Kommunalwahlen am 9. Juni mit der Europawahl zusammen. Ein Nachfolgekandidat für den 75-jährigen Winfried Kretschmann wird bis dahin nicht ausgerufen sein – und niemand weiß bei den Grünen so recht, ob das gut ist oder mit dem Festhalten an dem ökokonservativen Kretschmann bis zum Ende der Legislaturperiode die Landtagswahl Mitte März 2026 nicht schon frühzeitig verloren gegeben wird. 

 

Viele Grüne setzen dabei schon jetzt auf den populären Cem Özdemir. Was wiederum die Frage aufwirft, was der Bundesagrarminister tun wird, käme es im Bund tatsächlich noch in diesem Jahr zur Neuwahl, die die Grünen vom Kabinettstisch fegen dürfte. Die letzte Agrardieselreform hat Özdemir nicht nur in den stark landwirtschaftlich geprägten Gebieten Baden-Württembergs viel Kredit gekostet. Ob die Partei ihre 17,2 Prozent bei den letzten Kommunalwahlen wird halten können, gilt selbst mit dem verblassenden Glanz Kretschmanns als nicht ausgemacht. 

 

Özdemir und seine rückgratlose Mitmischung beim Einsparpoker der Ampel

 

Zwar glaubt der Politologe Michael Wehner von der Landeszentrale für politische Bildung, dass Baden-Württemberg einen schwäbischen Ministerpräsidenten mit türkischem Namen mittlerweile akzeptieren dürfte. Özdemir stünde längst mehr für eine schwäbische Aufstiegs- als für eine erfolgreiche Zuwanderungsgeschichte. Mag der 58-Jährige auch als Bundesminister immer öfter von der Böblinger Fastensuppe bis zum heimischen Schäferlauf im Geburtsort Bad Urach durch die Lande tingeln: Seine rückgratlose Mitmischung beim Einsparpoker der Ampel stärkt seine Ambitionen, sollten sie tatsächlich bestehen, nicht. Wer tiefe Einschnitte bei den Bauern sprachlos mitträgt und als Minister mit seinem Einspruch nicht ernst genommen wird, sich wenig später aber als grüner Feuerwehrmann ausgepfiffen in Szene setzt, bedient eher allgemeine Vorurteile statt die Zuverlässigkeit grüner Politik zu personifizieren. 

 

Und die Union? Während sie mit dem jungen Manuel Hagel den Generationswechsel an der Spitze überraschend harmonisch geschafft hat, mäandert sie im Bund im Tal der Kandidatennamen und fragt sich, ob sie ihren Herausforderer vor oder nach den im September befürchteten AfD-Triumphen verkünden soll. Wer da wie CSU-Chef Markus Söder den 9. Juni als möglichen Neuwahl-Termin in die europäische Landschaft röhrt, muss sich sagen lassen: große Klappe, nichts dahinter. 

 

Bleiben die Wähler und Wählerinnen: Eine starke Mehrheit sehnt das Ende der Ampel herbei. Und die Mitgliederbasis der Sollbruchstellen-FDP gibt sich in einer belanglosen Befragung uninteressiert. Die Hoffnung auf eine Besserung mit einem CDU-Kanzler ist mangels gemeinsamer Masse damit nicht verbunden. Fragen nach dem Sinn oder Unsinn einer Neuwahl kann man deshalb getrost den Fischen geben. Wie diese: Für welchen Fischer stimmst du? Fragte die Sardelle den Hering.

 


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