Wie die Union die Grünen laufen ließ…

Angesichts des Wahlsonntags in Hessen und Bayern ein Blick darauf, wie sich unsere bunte Parteienlandschaft entwickelt hat

Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (Foto: Josef A. Preiselbauer)
Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (Foto: Josef A. Preiselbauer)

 

Von Jost Springensguth

 

Wer erinnert sich noch an Herbert Gruhl? Die Trefferquote an Antworten fällt im Bekanntenkreis relativ gering aus, bei Jüngeren ohnehin. Gleichwohl spielt er eine Rolle bei einer Betrachtung der Entwicklung unseres Parteiensystems seit der Zeit, als bei Bundestagswahlen CDU/CSU 48,6 Prozent, die SPD 42,6 und die FDP 7,9 erhielten; die „Sonstigen“ – ein Dutzend Kleinstparteien – sammelten zusammen (!) 1,0 Prozent ein. Das war übrigens 1976, als eine sozialliberale Koalition gegen den damaligen Kanzlerkandidaten der Union, Helmut Kohl, gebildet wurde. Und das trotz seines glänzenden Ergebnisses knapp unterhalb der absoluten Mehrheit. Helmut Schmidt wurde am Ende damals zum Kanzler gewählt. An die Grünen wurde zu dieser Zeit noch nicht gedacht, an die AfD schon gar nicht.

 

Gruhl war der „Grüne“ in der Union, den man am Ende laufen ließ – und damit ein Potenzial, das sich bis heute zu einer bestimmenden politische Kraft entwickelt hat.  Herbert Gruhl war bis 1974 Kreisvorsitzender der CDU-Hannover-Land und Bundestagsabgeordneter. Er leitete damals die unionsinterne Arbeitsgruppe „Umweltvorsorge“, die ein gleichnamiges Konzept für die Programmatik der CDU entwarf. Er profilierte sich nicht nur als MdB, sondern auch als Buchautor mit dem Titel „Ein Planet wird geplündert“; und er war Gegner der Kernenergie und geriet in unüberbrückbare Zerwürfnisse mit seinem damaligen Parteivorsitzenden Helmut Kohl. Mit seiner konservativen und naturbewahrenden Haltung war Gruhl ein konsequenter Verfechter grüner Positionen – so konsequent war auch der CDU-Chef gegen den grünen Rebellen in den eigenen Reihen. Der wollte seine Partei von seinem wertkonservativen ökologischen Politikverständnis überzeugen – vergeblich.  

 

Dieser Ausflug in die Parteiengeschichte gehört vielleicht zu einem Erklärungsversuch, wenn es um die Wurzeln und Ursprünge der Partei „Die Grünen“, mit ihrer aktuellen Relevanz als Bündnis 90 / Die Grünen geht. Hier sind aktuell Zusammenhänge mit dem Thema einer nicht mehr scharf umrissenen gesellschaftlichen Mitte zu sehen. Bekanntermaßen ist daraus inzwischen eine relevante Gesellschaftsgröße entstanden, die in weite Teile der Politik themenbestimmend wirkt. Plötzlich strahlen die Komplexe Klima, Umwelt und Nachhaltigkeit in alle Parteien, zerspalten sie und ihre traditionelle Klientel untereinander und im Inneren. Das hat zu gravierenden Auswirkungen auf die Entwicklung unserer Parteienlandschaft geführt, wie wir inzwischen an Wahlabenden erleben und in der Demoskopie ständig vor Augen geführt bekommen. 

 

Die Volksparteien haben ihre Dominanz verloren

 

Am kommenden Sonntag werden wir wohl ein politisches Bild sehen, auf dem keine unserer einst großen Volksparteien dominierend erscheinen wird. Söder bewegt sich in Bayern stabil unter der 40-Prozent-Marke und richtet sich mit Aiwangers Freien Wählern auf die Fortsetzung der bestehenden Koalition ein. In Hessen hinterlässt der CDU-Amtsinhaber Boris Rhein den Eindruck, möglichst unauffällig daran zu arbeiten, auch seine Koalition mit den Grünen nach dem Landtagswahlkampf fortsetzen zu können. Somit werden aller Voraussicht beide Wahlergebnisse, die Sonntagabend in München und Wiesbaden wohl verkündet werden, zur weiteren Zersplitterung unserer ohnehin schon bunten Parteienlandschaft führen. 

 

Franz Josef Strauß, der Urvater der gestandenen Konservativen, konnte seine Politik noch so ausrichten, dass es „rechts von uns“ keine demokratisch legitimierte Partei geben dürfe; CDU und CSU müssten diesen Raum und diese politische Landschaft ausfüllen. Das war einmal. Seinem Nachfolger in der fünften Generation der bayerischen Ministerpräsidenten nach Strauß wird Söder diese Absicherung bei weitem nicht mehr gelingen. Rechts neben der CSU tummeln sich nicht nur die Freien Wähler mit gestern von INSA prognostizierten 15 Prozent und die AfD mit 14  – das macht auf der rechten Seite im politischen Spektrum zusammen 29 Prozent. In Hessen sind das knapp 20 (14,3 AfD und 4,3 Freie Wähler). Die zu erwartenden Ergebnisse in beiden Ländern, in denen am Sonntag gewählt wird, werden übrigens von den Befindlichkeiten in den ländlichen Regionen geprägt sein. 

 

Aus dieser Entwicklung über lange Zeiträume ist zu schließen, dass es die klassischen Parteien über Jahrzehnte versäumt haben, ihre Klientel nachhaltig zu binden. Das hängt wohl mit der gewandelten programmatischen Ausrichtung zusammen, indem sowohl Union als auch der SPD die Aufweichung ihrer Kernmarken von Parteitag zu Parteitag zugelassen haben. 

 

Die Union hat – wie geschildert – die Chance liegen lassen, erste wertekonservative grüne Gruppen bei sich zu halten. Die Sozialdemokraten haben ihre Klientel bei der Wandlung vom Arbeiterbild industrieller Prägung zur modernen Dienstleistungswirtschaft im Informationszeitalter programmatisch nicht mitgenommen. 

 

Alle Welt sucht nach den Gründen, die zum Verlust politischer Bindungskraft geführt haben. Die traditionellen Volksparteien haben weitgehend ihre innere Konsensfähigkeit und damit überzeugende politische Wirkung verloren, auch weil sie zu vielen Themen und Führungspersonen ihre Geschlossenheit aufgegeben haben. Am Wahlabend werden die Wählerinnen und Wähler wahrscheinlich wieder bestätigen, was sie in unserer Demokratie vermissen: Einigungsfähigkeit, überzeugenden politischen Gestaltungswillen und die Kraft zur Gemeinsamkeit, wenn es um die Lösung großer Themen geht. 

 

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