Lebensmittelindustrie unter Veränderungsdruck

EU-Kommission weist auf die Defizite in Landwirtschaft und verarbeitendem Gewerbe hin und startet eine Konsultation

Foto: elementar01
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Von Ludwig Hintjens  

 

Das europäische System zur Produktion und Verarbeitung von Lebensmitteln steht unter hohem Veränderungsdruck. Es geht um Europas Bauern und die Lebensmittelindustrie, eine Branche, die 2021 insgesamt 585 Milliarden Euro umgesetzt hat und 16,3 Millionen Menschen beschäftigt. Es geht um Wertschöpfung, die vor allem im ländlichen Raum stattfindet und fast ausschließlich von Kleinen und Mittelgroßen Unternehmen (KMU). Mit 289.000 Betrieben in der Nahrungsmittelbranche der EU sind 99 Prozent KMUs. Sie erwirtschaften etwa die Hälfte der Umsätze in der Branche. Die andere Hälfte wird von einem Prozent sehr großen Unternehmen erzielt.

 

Die Unternehmen stehen vor der Herausforderung, in den nächsten Jahren ein System zur Produktion von Lebens- und Futtermitteln aufzubauen, das widerstandsfähiger gegen Krisen und nachhaltiger ist als heute sowie die Vorteile der Digitalisierung nutzt. Die EU-Kommission hat zu dem Thema ein erstes Arbeitsdokument veröffentlicht und Verbraucher, Unternehmen und Verbände aufgefordert, Stellung zu nehmen. 

 

Green Deal und das veränderte Ernährungsverhalten

 

Die Zukunftsaufgaben sind groß. Landwirte müssen zum einen die Folgen des Klimawandels wirtschaftlich bewältigen. Die Konsequenzen vom Verlust von Tier- und Pflanzenarten, dem Abtragen fruchtbaren Ackerlandes durch verschärfte Erosion sowie absinkende Grundwasserspiegel treffen Bauern mit mehr Wucht als andere Industriezweige. Auf die Branche kommen im Zuge des Green Deals große Anstrengungen hinzu. Die Lebensmittelproduktion ist etwa für ein Drittel des globalen Ausstoßes von Klimagasen verantwortlich. 70 Prozent des Frischwasserverbrauchs gehen global auf ihr Konto, 28 Prozent des verbrauchten Süßwassers entnimmt allein die Landwirtschaft. Hinzu kommen gravierende Probleme im Ernährungsverhalten der Menschen, auf die Antworten gefunden werden müssen: Weltweit sind acht Prozent der Menschen unterernährt, über 30 Prozent sind übergewichtig oder sogar adipös. 

 

Die Kommission skizziert Meilensteine, damit die Transformation gelingt. Vor allem in der Landwirtschaft müsse die Produktivität steigen. In den meisten Mitgliedsstaaten seien die Produktivitätssteigerungen in den bäuerlichen Betrieben zuletzt enttäuschend ausgefallen. Die nachgelagerte Industrie der Lebensmittelproduktion habe im Gegenzug profitieren können. Den Landwirten sei es auch deswegen nicht gelungen, höhere Preise durchzusetzen, weil breite Bevölkerungskreise Reallohnverluste durch Inflation und exorbitante Preissteigerungen bei Energie zu verkraften hatten. Dieser Trend werde nicht so schnell umkehrbar sein. Die Kommission empfiehlt Bauern, sich auf den hochpreisigen Markt zu konzentrieren. Besserverdienende seien bereit, höhere Preise für Nachhaltigkeit und Frische zu zahlen. 

 

Bei aller Notwendigkeit, grüner zu werden: Die EU-Agrar- und Lebensmittelindustrie sei schon recht erfolgreich bei der Senkung des CO₂-Ausstoßes. Seit 1990 sei der Ausstoß von Klimagasen um ein Fünftel zurückgegangen. Die Fischerei habe den Spritverbrauch in den letzten zehn Jahren um 15 Prozent gesenkt. 

 

EU beziffert Investitionslücke in der Landwirtschaft

 

Nachholbedarf habe die Branche vor allem bei der Digitalisierung. Es gehe darum, die Agro-Lebensmittelindustrie 4.0 zu schaffen. Künstliche Intelligenz, Roboter und hochleistungsfähige Computer könnten dazu beitragen, in der Landwirtschaft für höhere Erträge und weniger Umweltverschmutzung zu sorgen. Digitale Nachverfolgbarkeit der Lebensmittelkette helfe etwa, Produktfälschungen zu entlarven. Mit E-Commerce könnten Verbraucher eine größere Auswahl sowie maßgeschneiderte Angebote bekommen. 

 

Allerdings: Es fehlt an Geld, um den Umbau der EU-Agrar- und Lebensmittelindustrie voranzutreiben. Die Kommission schätzt, dass in der Landwirtschaft in den nächsten Jahren die Investitionslücke 20 bis 46 Milliarden Euro ausmache, in der Lebensmittelindustrie seien rund 12,5 Milliarden Euro zusätzlich nötig. Im Vergleich zu Wettbewerbern werde in Europa zu wenig investiert: Europäische Betriebe der Branche investierten im Schnitt 0,2 Prozent der Gewinne, in den USA liege der Wert mit 0,44 Prozent etwa doppelt so hoch, in Japan mit 0,65 Prozent etwa dreimal so hoch. 

 

Im Rahmen der Gemeinsamen Agrarpolitik (GAP) investiert die EU von 2023 bis 2027 35 Milliarden Euro. Das ist zu wenig Geld, um die Zukunftsausgaben zu bewältigen.

 

Der Link zum Papier: https://single-market-economy.ec.europa.eu/consultations/transition-pathway-more-resilient-sustainable-and-digital-agri-food-ecosystem_en

 


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