Auch kleine Lokalblätter können im ländlichen Raum viel bewegen – Ampelstreit zugespitzt

Gedanken, Anmerkungen und Beobachtungen mit dem Blick aufs Land und zurück auf diese Woche

 

Guten Tag, liebe Leserinnen und Leser,


gerne möchte ich Sie einladen, mich heute gedanklich in meine Heimat, den niedersächsischen Heidekreis, zu begleiten. Dort gibt es eine kleine Tageszeitung, die aller Ehren wert ist und um die uns Bürger anderer Region beneiden können. Die Süddeutsche Zeitung, immerhin eines der national führenden und renommiertesten Medien, widmete dem kleinen Blatt jüngst einen langen Artikel auf der Medien-Seite unter der euphorischen Überschrift: „Die Helden von der Böhme-Zeitung.“

 

Jürgen Wermser
Jürgen Wermser

Worum geht es da? Anlass des Artikels ist die beginnende Sanierung des sogenannten Dethlinger Teichs bei Munster, dem größten Standort des deutschen Heeres. Seit Beginn des vorigen Jahrhunderts war hier Giftgas für den militärischen Einsatz im Ersten Weltkrieg produziert worden. Später arbeiteten die Nazis an Kampfstoffen wie Tabun oder Sarin. Alles, was nicht mehr benötigt wurde oder defekt war, wurde damals in den nahegelegenen Teich gekippt oder auch in Ost- und Nordsee verklappt. 

 

Mindestens 30.000 Giftgas-Granaten sollen in dem mittlerweile versandeten Teich nahe Munster liegen. Die jetzt beginnende Bergung von chemischen Kampfstoffen ist die größte ihrer Art, die jemals in Deutschland stattgefunden hat. Ohne die Böhme-Zeitung, einem 1864 gegründeten Lokalblatt in Familiensitz und einer Auflage von knapp 8.000 Exemplaren, wäre es dazu wahrscheinlich nicht gekommen. Denn jahrzehntelang waren die Verantwortlichkeiten zwischen Bund, Land und dem Landkreis hin und her geschoben worden. Keiner wollte für das große und risikoreiche Projekt zahlen, und die Gefahren wurden kleingeredet.

 

Bildung einer Bürgerinitiative

 

Es bildete sich zwar 1989 eine Bürgerinitiative, die auf die Sanierung des Dethlinger Teichs drang, auch überregionale Medien berichteten gelegentlich. Doch erst, als sich Redaktion und Verleger der Böhme-Zeitung der Sache annahmen und eine mit Preisen ausgezeichnete Journalistin als freie Investigativ-Reporterin engagierten, nahm das Thema politisch Fahrt auf. Es wurde umfassend recherchiert, Hintergründe wurden beleuchtet, Abgeordnete aus Bund und Land befragt. Eine von der Böhme-Zeitung organisierte Bürgerversammlung im Soldatenheim von Munster war bis auf den letzten Platz gefüllt. Der heutige Redaktionsleiter Stephan Grönefeld sagt zurückblickend zu der Initiative seines Vorgängers Jörg Jung, die Aufmerksamkeitsspirale habe sich nicht mehr runterregeln lassen.

 

Ich finde, so sollte guter Lokaljournalismus sein: kritisch, engagiert und mit einem langen Atem wichtige Probleme thematisieren und aufbereiten, die den Bürgern am Herzen liegen. Doch gerade im ländlichen Raum wird all dies zunehmend schwieriger. Große Verlage wollen oder müssen die Kosten dort immer mehr reduzieren, um wirtschaftlich rentabel zu bleiben. Mancherorts wird bereits die Zustellung der Tageszeitung eingestellt. Was dies auf Dauer für das politische, soziale und kulturelle Leben im ländlichen Raum bedeutet, lässt sich heute wohl nur erahnen. Es wird höchste Zeit, hier gegenzusteuern. Denn ein medial abgehängter ländlicher Raum wird auch auf allen anderen Feldern zunehmend unattraktiver und verliert Lebensqualität – vom Bildungs-, Kultur- und Sozialsektor bis hin zur Fachkräftegewinnung. Das kann politisch nicht gewollt sein, von den Gefahren für die Demokratie – Stichwort Radikalisierung – ganz zu schweigen.

 

Ein Thema, das uns auch in dieser Woche beschäftigt hat, ist die Energiewende und ihre Folgen. Aktuell geht es hier um eine mögliche Strompreisreform mit niedrigeren Gebühren für Regionen mit viel Windkraft. Im Bundestag liegt ein entsprechender Gesetzentwurf aus dem Bundeswirtschaftsministerium, der die Netzagentur autorisieren würde, faire Netzentgelte einzuführen. Vor allem im Norden, wo vergleichsweise viel erneuerbare Energie produziert wird, ist das ein drängendes Thema. Dort fühlt man sich benachteiligt, weil die Bürger wegen des notwendigen Netzausbaus höhere Kosten als im Süden Deutschlands zahlen müssen. Niedersachsens Ministerpräsident Stephan Weil wird dazu in der Presse mit den Worten zitiert: „Es steht für mich außer Frage, dass dies mit Blick auf die notwendige Energiewende so nicht bleiben kann. Wir brauchen bundesweit eine faire Verteilung der Netzentgelte.“ 

 

Söder warnt vor Spaltung

 

So weit, so gut, wenn da nicht der bayerische Landtagswahlkampf wäre. So spricht Bayern CSU-Ministerpräsident Markus Söder bereits von einer weiteren Attacke der Ampel auf den Süden, die unser Land spalte und den Süden systematisch benachteilige. Unterschiedliche Strompreiszonen würden unserem Industrieland schwer schaden, warnt Söder wohl auch mit Blick auf seine heimischen Wähler.

 

Dieser Streit zwischen dem Norden und Süden unserer Republik ähnelt Konflikten, wie sie im Zuge der Energiewende auch zwischen städtischen und ländlichen Regionen immer wieder stattfinden. Der eine Part hat die Hauptlasten zu tragen, sprich: etwa den Bau von großen Windkraftanlagen und der damit verbundenen Störung des Landschaftsbildes. Der andere profitiert als städtische Region von den anderenorts produzierten grünen Energien, ohne selbst die damit verbundenen Nachteile beziehungsweise Kosten ertragen zu müssen. Keine Frage, dies kann in dem ein oder anderen Fall durchaus Ressentiments wecken. Immerhin sollen bis zum Jahr 2030 rund 80 Prozent des in Deutschland benötigten Stroms aus erneuerbaren Quellen kommen, fünf Jahre später sogar 100 Prozent. Im vergangenen Jahr hatte der Anteil grünen Stroms am Gesamtverbrauch bei nur etwas über 46 Prozent gelegen. Das bedeutet: Neben der weiteren Errichtung von vielen Windkraft- und Solaranlagen muss auch der Netzausbau noch massiv beschleunigt werden. Entsprechend hohe Kosten werden auf Unternehmen und Bürger zukommen. Und da sind auch noch zusätzliche Belastungen, die den ländlichen Raum betreffen, über die die politisch Verantwortlichen aber nur höchst ungern reden. Konkret: Fast jeder Bau von Windkraftanlagen mit den notwendigen Zuwegen und jede „Stromautobahn“ als Überlandkabel oder Erdkabel bedeuten Landverbrauch bzw. Einschränkungen für Landnutzer.  

 

Es ist Aufgabe der Politik, hier für einen fairen und allgemein akzeptierten Ausgleich zu sorgen. Augenscheinlich besteht beim Strompreis durchaus Handlungsbedarf. Wie das im Einzelfall geregelt wird, müssen letztlich die Beratungen im Bundestag ergeben – gerade in heißen Wahlkampfzeiten ein ebenso kompliziertes wie politisch heikles Unterfangen, zumal man in der Ampelkoalition auch in anderen wichtigen Fragen nicht an einem Strang zieht. Beispiel: Blockade des „Wachstumschancengesetzes“ von Bundesfinanzminister Lindner (FDP) durch seine grüne Amtskollegin Lisa Paus. Diese hat im Kabinett ein Veto gegen Lindners Entwurf eingelegt, um eine Zusage höherer Mittel für die von ihr geplante Kindergrundsicherung zu bekommen. Egal, was man von den beiden jeweiligen Konzepten halten mag: Der ungewöhnliche Streit auf offener Bühne ist ein Armutszeugnis für die gesamte Koalition, nicht zuletzt den Kanzler. 

 

Bürger verlieren Vertrauen in den Staat

 

Meinungsverschiedenheiten gehören zu einer Demokratie, aber ein Kabinett muss sich schon in internen Beratungen verständigen können, um dann gemeinsam Vorhaben offiziell zu beschließen und um die Zustimmung der Bürger zu werben. Sonst steht allzu leicht das Vertrauen in die Handlungsfähigkeit und damit auch die Glaubwürdigkeit der Regierung insgesamt auf dem Spiel – mit möglicherweise gravierenden Folgen. 

 

Dies ist leider kein bloß theoretisches Problem, wie jüngst die 17. Bürgerbefragung von Forsa im Auftrag des Deutschen Beamtenbundes ergeben hat. Danach ist das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in die Handlungsfähigkeit des Staates auf einen neuen Tiefpunkt gesunken. Nur noch 27 Prozent der Befragten halten den Staat für fähig, seine Aufgaben zu erfüllen. Das waren zwei Prozentpunkte weniger als im vergangenen Jahr. 69 Prozent sahen den Staat als überfordert an, im Jahr davor waren es noch 66 Prozent gewesen. Und wem man nicht vertraut, den nimmt man auch nicht mehr sonderlich ernst. Eine Folge ist das Abwenden von demokratischen Werten und der anschließende Zuspruch für radikale Kräfte.

 

Gewiss, der Streit um die Kindergrundsicherung und das Wachstumschancengesetz wird nicht automatisch und in direkter Form zu mehr Stimmen für die AfD führen. Doch der Konflikt reiht sich ein in eine ganze Kette von Zwistigkeiten, die die Autorität des Staates und der ihn Regierenden beschädigen. Es wird deshalb höchste Zeit, dass der Kanzler ein Machtwort spricht, um den ärgsten Vertrauensverlust zu verhindern. Doch hat Scholz dazu überhaupt noch die Kraft und den politischen Willen? Ein gewisses Maß an Skepsis scheint angebracht. Denn Scholz versprüht zwar öffentlich gerne gute Laune, was grundsätzlich nicht schlecht ist. Aber besser wäre es schon, wenn Erscheinungsbild und Leistungen seines Kabinetts diesen Optimismus auch tatsächlich rechtfertigen würden …

 

Umso mehr wünsche ich Ihnen jetzt eine gute, positive Woche und verbleibe mit den besten Grüßen 

Ihr

Jürgen Wermser

Redaktionsleitung/Koordination

 

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