Zeit zum Lüften

 

Von André Vielstädte

 

Donnerstagmorgen, erster Tag nach den Sommerferien in einem 10.000 Seelen Ort mitten in Westfalen. 57 I-dözchen lassen mit geputzten Schuhen, nagelneuen ergonomisch geformten Schulranzen und Mund-Nasen-Schutz auf dem Schulhof ihrer Energie freien Lauf. Eine Stunde zuvor wurden sie offiziell von der stellvertretenden Schulleiterin der Grundschule begrüßt. Nicht gerade festlich, aber die junge Lehrerin war sehr bemüht, den Corona-Regeln zum Trotz, etwas Stimmung aufkommen zu lassen. Die eigentliche Rektorenstelle ist seit drei Jahren unbesetzt und damit auch die Führungsstelle des Kollegiums.

 

Mit dem Schulbeginn in Nordrhein-Westfalen starten fast 2,5 Millionen Jungen und Mädchen zurück in ihren Alltag, den Corona-Alltag. Es ist das dritte Schuljahr in Folge, das durch die Pandemie geprägt ist und damit vor allem das Leben der Kinder bestimmt. Die Corona-Regeln ändern sich so schnell, dass kaum einer den Überblick behält - weder Lehrer, Schüler noch Eltern. Schnelltests, Lolli-Tests, mal reduzierte Klassenbesetzung, dann wieder alle 30 Schüler in den Klassenraum. Konstant bleibt nur die Empfehlung des Stoßlüftens, und zwar alle 15 Minuten. Luftfilter – wie sie in manchen Industrien vom Gesetzgeber vorgeschrieben werden – Fehlanzeige. Stattdessen AHA+L: Abstand, Hygiene, Alltagsmaske und Lüften nicht vergessen.

 

Warnungen kaum beachtet

 

Man könnte meinen, in den vergangenen 18 Corona-Monaten sei nicht viel passiert, nachdem die erste Welle die Schulen erstmalig dichtgemacht hat. Dass Wissenschaftler die Gefahren durch Aerosole im Mai 2020 festgestellt haben und der Politik den Einsatz von sogenannten HEPA-Filtern empfahl, fand in den Kultusministerien der Länder wenig Gehör.

 

Mancherorts ist die Wut auf die Schulsituation so groß, dass Eltern, Kinder und auch Lehrer selber aktiv werden. Fördervereine und Elterninitiativen schaffen in Eigenregie mobile Luftfilter an. Die Schulträger und Kultusministerien sind mit anderen Aufgaben beschäftigt. Denn nicht nur Corona stellt die Schullandschaft in Deutschland vor große Probleme. Auch Lehrermangel, Digitalisierung und demographische Entwicklung machen den Schulen schwer zu schaffen.

 

Nach wochenlangem Wechselunterricht könnte der Schulalltag für viele Familien ein Zurück zur Normalität sein. Doch was ist schon normal in der deutschen Schullandschaft, wenn der Stundenausfall zur Regel geworden ist? Insbesondere der Lehrermangel macht vielen Schulen schwer zu schaffen. Und das hat Gründe, die für die Schulpolitiker in vielen Ländern abzusehen waren: Während in Sachsen-Anhalt im Schuljahr 2019/2020 rund 65,4 Prozent aller Lehrkräfte älter als 50 Jahre waren, sind es in Baden-Württemberg nur 31 Prozent. Die einen haben den Generationenwechsel bisher verpennt, die anderen bereits abgeschlossen.

 

Neue Technik oft Neuland

 

Zum Thema Alter der Lehrer und Lehrerinnen gehört oftmals auch der Stand der Digitalisierung. 150 Milliarden Euro sind allein 2019 in die deutsche Bildungsinfrastruktur geflossen. Es wird nicht nur in Steine für neue Gebäude, den Ganztagesausbau und neue Mensen investiert. Auch Whiteboards, digitale Tafeln, Computer und Tablets wurden vielerorts angeschafft. Die Anwendung der neuen Technik ist jedoch für so manchen Nutzer Neuland. Denn viele Lehrkräfte sind durch den täglich neuen Schul-Alltag einfach überlastet. Unterbesetzung, Bürokratie, neue digitale Unterrichtsformen, und nicht zu vergessen das Lüften. Da kann man schon mal den Überblick verlieren.

 

Eigentlich ist es eine gute Situation für Politiker im Wahlkampf, mit einem neuen Bildungsfahrplan für Deutschland zu punkten. Mehr Bildung, bessere Bildung, gleiche Bildungschancen - alles Forderungen, die wir aus den vergangenen Jahren kennen. Doch der Wahlkampf 2021 bleibt auch an dieser Stelle im luftleeren Raum. Vielleicht ist es mal wieder Zeit zum Lüften…  

 

Unser Gastautor:

 

Dr. André Vielstädte ist promovierter Politikwissenschaftler, Strategie- und Kommunikationsberater. Als Geschäftsführer und Sprecher verantwortete er viele Jahre die Unternehmenskommunikation beim Lebensmittelunternehmen Tönnies. In seinem Lehrauftrag an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt lehrt er zum Thema Öffentlichkeit und Öffentlichkeitsarbeit. Der erfahrene Beobachter des Politikbetriebes in Berlin und Düsseldorf fokussiert sich auf die Themen des ländlichen Raums. 

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