Europäische Bürokratie schadet dem Binnenmarkt

Die berüchtigte A1-Bescheinigung bringt Unternehmen zur Verzweiflung und höhlt den Geist des gemeinsamen Binnenmarktes aus

Eine innereuropäische Grenze. (Symbolbild: Reinhard Thrainer)
Eine innereuropäische Grenze. (Symbolbild: Reinhard Thrainer)

 

Von Ludwig Hintjens

 

Völlig zu Recht werden die wirtschaftlichen Errungenschaften des EU-Binnenmarktes gefeiert, der in diesen Tagen 30 Jahre alt wird. Darum beneiden viele Wirtschaftsräume Europa: Ein gemeinsamer Markt für 450 Millionen Verbraucher bietet große Chancen. Die EU setzt mit ihrer Gesetzgebung Standards, an denen sich auch Weltkonzerne orientieren, die ihren Sitz in China, den USA und anderswo haben. Dass europäische Unternehmen in dem großen Markt ohne Zölle, ohne Handelsbeschränkungen und zum großen Teil ohne Wechselkursbeschränkungen handeln und Dienstleistungen austauschen können, das erklärt auch, warum die EU eine so hohe Anziehungskraft für die Nachbarn hat.

 

Doch der Binnenmarkt ist durch Bürokratie in Gefahr. Es geht um Bürokratie in ihrer schädlichsten Form, um überflüssigen Papierkram. Das Centrum für Europäische Politik, CEP, ein Thinktank mit Sitz in Freiburg und Berlin, weist auf den Missstand in einer Studie hin, die das Institut mit der Stiftung Familienunternehmen erarbeitet hat: Arbeitnehmer, die von ihren Chefs in ein EU-Land entsandt werden, um dort einen Auftrag zu erfüllen, müssen die berüchtigte A1-Bescheinigung mitführen. Nicht nur, dass von Land zu Land unterschiedliche Angaben nötig sind. Die Prozeduren, die der Arbeitgeber zur Erlangung der Bescheinigung online erbringen muss, unterscheiden sich je nach dem Mitgliedstaat. Mal ist es komplizierter, am kompliziertesten und damit wegen des Erfüllungsaufwandes am teuersten ist es wieder einmal in Deutschland.

 

EU-Gesetzgebung nicht eindeutig

 

Das Chaos hat einen schlichten Grund: Die EU ist in ihrer Gesetzgebung nicht eindeutig. Im einschlägigen Rechtstext steht nicht klipp und klar, welche Angaben benötigt werden. Es wird höchste Zeit, dass das geändert wird und die EU für Klarheit sorgt.

 

Doch damit nicht genug. Allen Bekenntnissen vieler Politiker zum Trotz versuchen die Mitgliedstaaten auch immer wieder, den Binnenmarkt auszuhebeln und ihren heimischen Unternehmen Wettbewerbsvorteile zu verschaffen. Häufig dienen europarechtliche Bestimmungen als ein Vorwand, um kleine Gewerbetreibende und Dienstleister von der anderen Seite der EU-Binnengrenze zu vergraulen.

 

Die Behörden in Frankreich, Belgien, Luxemburg und Österreich machen Unternehmen aus dem grenznahen Bereich das Leben schwer. Da werden Klempner-Lieferwagen abgefangen, zum Umkehren gezwungen, wenn die A1-Bescheinigung aus Unwissen nicht beantragt wurde. Da gibt es kein Erbarmen, auch wenn nur ein Auftrag mit einem Aufwand von wenigen Stunden zu erledigen ist. Aus Deutschland kommende Fahrgäste wurden bereits am Bahnhof in Brüssel von belgischen Beamten auf die A1-Bescheinigung überprüft. Sogar in der Beamtenschaft – also einem Personenkreis, der nicht sozialversicherungspflichtig beschäftigt ist und damit nicht den Regelungen der A1-Bescheinigung unterliegt – sorgte die A1-Bescheinigung bereits für Schrecken: Es wird berichtet, dass ein Landesbeamter sich die Bescheinigung besorgt hat, um als Referent an einem Seminar in Paris teilzunehmen.

 

Fall der A1-Bescheinigung ist besonders ärgerlich

 

So funktioniert der Binnenmarkt nicht. Die unendliche Geschichte mit der A1-Bescheinigung belegt, dass der bürokratische Aufwand von bestehenden EU-Gesetzestexten sowie die Handhabung von Regelungen sehr genau hinterfragt werden müssen. Der Fall der A1-Bescheinigung ist besonders ärgerlich, weil bereits seit Jahren der EU-Abgeordnete und Binnenmarktexperte Andreas Schwab (CDU) auf Missstand und Missbrauch hinweist. Das Wissen ist also vorhanden. Nur: Bislang hat sich daran nichts geändert.

 


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