Stadtflucht wie Mitte der 1990er Jahre

Städte verlieren prozentual so viel Bevölkerung wie vor 30 Jahren. Gewinner dieser Wanderungsbewegung sind die ländlichen Kreise

Die Lichter der Metropolen haben offenbar etwas von ihrem Glanz verloren – hier die Lichter Berlins bei Nacht. (Symbolbild: Achim Scholty)
Die Lichter der Metropolen haben offenbar etwas von ihrem Glanz verloren – hier die Lichter Berlins bei Nacht. (Symbolbild: Achim Scholty)

 

Von Wolfgang Kleideiter

 

Jetzt haben wir es schwarz auf weiß: Das Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung (BiB) in Wiesbaden hat auf Grundlage von aktuellen Daten des Statistischen Bundesamts ausgerechnet, dass die seit Anfang dieses Jahrhunderts beobachtete Renaissance der großen Städte zum Erliegen gekommen ist. Die Kurve der sogenannten Nettowanderungsrate - das Verhältnis von Zuzügen zu Fortzügen - zeigt für die Metropolen in Summe steil nach unten. Die Lichter der Großstadt haben offenbar etwas von ihrem Glanz verloren.

 

Laut BiB ist die Zahl der Fortzüge aus den kreisfreien Großstädten in kleinere Städte und ländliche Regionen im Vergleich zu 2019 um 1,8 Prozent angestiegen. Gleichzeitig sanken die Zuzüge in die Großstädte um 5,4 Prozent.

 

Beispiel Berlin: Zwischen 2011 und 2013 verzeichnete die Hauptstadt einen durchschnittlichen Zuwachs von 43.000 Einwohnern pro Jahr. Im Jahr 2021 betrug der Wanderungsgewinn noch 16.000. Das klingt immer noch nach viel, doch Berlin zählt neben München, Hamburg und Frankfurt/Main zu den „Gateway Cities“, die wie große Knotenpunkte wirken und rund drei Viertel ihres Wachstums aus internationaler Zuwanderung schöpfen. Würde Berlin allein von der Binnenwanderung mit anderen Bundesländern abhängen, wäre die Bevölkerungszahl der Stadt im vergangenen Jahr nach Angaben des Amtes für Statistik Berlin-Brandenburg um rund 10.000 geschrumpft.

Dünn besiedelte ländliche Kreise mit Verdichtungsansätzen zählen laut Bundesinstitut zu den großen Gewinnern. Das städtische Umland, das in den 1990er Jahren den weitaus größten Zuzug verzeichnete, profitiert im Vergleich etwas weniger stark von der aktuellen Entwicklung.

 

Abwanderung ins weite Umland

 

Der BiB spricht bereits von einer „Tendenz zur Suburbanisierung“, sprich: einer erkennbaren Abwanderung ins weite Umland. Das Umzugsverhalten verschiedener Altersgruppen unterstreicht dies. Denn im Vergleich zu 2019 zogen vor allem 30- bis 49-Jährige (plus 3,7 Prozent) sowie Minderjährige (plus 8,9 Prozent) aus den Großstädten weg. „Die Zahlen deuten darauf hin, dass sich die Suburbanisierung von Familien, die wir schon vor der Pandemie beobachtet haben, in 2021 weiter verstärkt hat“, erklärte vor wenigen Tagen Tamilwai Kolowa, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Bundesinstitut und Experte für Migration und Mobilität.

 

Die Gründe für die Wanderungsverluste der großen Städte sind noch wenig erforscht, aber Wohnungsknappheit und anhaltend hohe Wohnungspreise in Großstädten dürften trotz Mietpreisdeckel eine Rolle spielen.

 

Städte erleben die Abstimmung mit den Füßen

 

Bei jüngsten Befragungen fährt das Leben auf dem Land oder in einer ländlich geprägten Region immer mehr Sympathiepunkte ein. Viele Menschen sind den Lärm und das Chaos in einer Großstadt satt und orientieren sich neu. Städte erleben die sprichwörtliche Abstimmung mit den Füßen. Und nachdem Corona die Mobilität einschränkte, setzen jetzt viele ihren Plan um und kehren der Großstadt den Rücken zu. Und noch ein Aspekt stärkt auf mittlere Sicht den ländlichen Raum: Laut BiB war der Wegzug jüngerer Menschen aus den ländlichen Regionen in die Großstädte zuletzt geringer als in den Jahren vor der Pandemie.

 


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