Rückenwind für Staatsgläubige und Identitätspolitiker

Das neue rot-grün-gelbe Deutschland soll ein feministisches sein und eines, das seine Politik zunehmend an Minderheiten ausrichtet

Die SPD hatte schon im Wahlkampf versprochen, Schluss zu machen mit dem angeblich unsozialen Hartz-IV-Gesetzen und dem Prinzip des Förderns und Forderns. (Symbolbild: Ralphs_Fotos)
Die SPD hatte schon im Wahlkampf versprochen, Schluss zu machen mit dem angeblich unsozialen Hartz-IV-Gesetzen und dem Prinzip des Förderns und Forderns. (Symbolbild: Ralphs_Fotos)

 

Von Hugo Müller-Vogg

 

In einem so schwierigen Umfeld hat seit den 1960er-Jahren noch keine neue Regierung ihr Amt angetreten wie die Ampel-Koalition vor knapp einem Jahr. Anfang Dezember 2021 war die Corona-Pandemie noch nicht abgeklungen, stiegen die Preise bereits deutlich an und zeigten sich Schwierigkeiten in vielen Lieferketten. Dann kam im Februar der russische Überfall auf die Ukraine dazu – mit all seinen Folgen für die Energiepreise, die Sicherheitspolitik, die internationalen Wirtschaftsbeziehungen und die Flüchtlingszahlen.

 

SPD, Grüne und FDP hatten sich bessere Rahmenbedingungen für ihre „Fortschrittskoalition“ gewünscht; sie hätten dem Land ebenfalls gutgetan. Doch das Leben ist bekanntlich kein Wunschkonzert. Seit dem Ausbruch der Pandemie war das Politikerleben – jedenfalls das der jeweils Regierenden – kein ungetrübtes Vergnügen. Da bietet der Kalenderspruch, wonach in jeder Krise eine Chance stecke, wenig Trost. Es gibt auch Chancen, auf die man gerne verzichten würde – wenn man könnte.

 

Krise als Chance für grundlegende Veränderungen

 

Gleichwohl bieten die aktuellen Krisen staatsgläubigen Politikern – ob mit rotem, dunkelrotem oder grünem Parteibuch – ungeahnte Chancen. Schon die Große Koalition griff während der Pandemie massiv ins Wirtschaftsgeschehen ein. Der Staat unterstützte Unternehmen wie Selbstständige, stundete Steuerschulden, bürgte für Kredite, gewährte Leistungen wie Hartz IV, ohne die tatsächliche Bedürftigkeit zu prüfen. Das alles war für eine befristete Zeit richtig und notwendig. Doch wurden die meisten Maßnahmen wegen der wirtschaftlichen Folgen des Ukrainekriegs verlängert. Neue, sehr teure kamen hinzu.

 

Allein die drei Entlastungspakete haben ein Volumen von 95 Milliarden Euro. Hinzu kommt der „Doppelwumms“, um die infantile Sprache des Kanzlers aufzunehmen, von 200 Milliarden Euro für die Gas- und Strompreisbremse. Nicht alles, was beschlossen und weitgehend mit der Gießkanne über Bedürftige wie Gutsituierte ausgeschüttet wurde, war von Dauer. Der Tankrabatt aus dem Sommer, an dem sich SUV-Fahrer wohl am meisten erfreuten, ist wieder verschwunden. Doch das 9-Euro-Ticket, ursprünglich auf drei Monate angelegt, kommt als 49-Euro-Ticket zurück – und zwar auf Dauer. Da wird es nicht lange dauern, bis die Rufe nach einer Reduzierung laut werden.

 

Vom selbstständigen zum betreuten Bürger

 

Wer schon im Frühsommer darauf hingewiesen hatte, dass sich diese ungebremste Ausgabenfreude im Namen der sozialen Gerechtigkeit kaum mehr zurückdrehen lassen werde, sieht sich längst bestätigt. Viele Ausnahmen und Erleichterungen bei Hartz-IV werden beim neuen Bürgergeld zum festen Bestandteil des Regelwerks. „Vater Staat“ behält die Spendierhosen an.

 

Das gilt nicht nur gegenüber den vermeintlich oder tatsächlich auf Hilfe angewiesenen Bürgern. Die staatliche Fürsorge gilt ebenso Unternehmen. Mancher Betrieb, der schon vor Corona über kein erfolgsversprechendes Geschäftsmodell verfügte, wurde mit Subventionen am Leben gehalten. Jetzt werden Gas- und Strompreisbremse dieselbe segensreiche Wirkung entfalten, jedenfalls aus der Sicht derer, die mehr auf die ökonomische Weisheit und Weitsicht der Politik und der Ministerialbürokratie vertrauen als auf den Marktmechanismus.

 

Die SPD hatte schon im Wahlkampf versprochen, Schluss zu machen mit dem angeblich unsozialen Hartz-IV-Gesetzen und dem Prinzip des Förderns und Forderns. Jetzt kehren sie zusammen mit den Grünen, also der anderen Agenda 2010-Partei, zurück zum Rund-um-Versorgungs- und Vollkasko-Staat. Der selbstständige Bürger wird abgelöst vom betreuten, vom Sozialstaats-Untertan. Wir steuern auf einen Zustand zu, vor dem Ludwig Erhard schon 1953 (!) gewarnt hatte: „Wir werden im Grunde genommen immer ärmer, immer unsicherer, immer abhängiger. Zuletzt werden wir dann alle Sozialrentner.“

 

Zurück zum Rundum-Versorgungs-Staat

 

Otto Graf Lambsdorff, der „Marktgraf“, hatte in den 1990er-Jahren ganz im Geiste Erhards beklagt, der "Vollkaskostaat" beseitige mit dem existentiellen Druck den notwendigen Leistungsanreiz: "Es verdirbt die Seelen der Menschen, wenn man ihnen beibringt, sie könnten sich schon darauf verlassen, dass die anderen arbeiten und Steuern zahlen und sie durchfüttern." Wobei die FDP als kleinster Partner in der Ampel diese Politik etwas abbremsen, nicht aber verhindern kann. Ironie der Geschichte: Auch den sehr großzügigen und zu teuren Ausbau des Sozialstaats in den 1970er-Jahren hatten die Freien Demokraten in der sogenannten sozial-liberalen Koalition mitgetragen.

 

Kein Zweifel: Die aktuellen wirtschaftlichen Herausforderungen mit ihren sozialen Folgen sind Wasser auf die Mühlen aller roten und grünen Staatswirtschaftler, denen „mehr Staat“ ein zentrales Anliegen ist. Liebend gerne würden sie das mit ihrer Allzweckwaffe finanzieren: mit höheren Steuern und vor allem einer Vermögensabgabe. Das hat die FDP bisher zu verhindern gewusst. Doch ist nicht auszuschließen, dass die Fraktion der Staatsgläubigen wenigstens eine weitere Aussetzung der Schuldenbremse durchsetzen kann.

 

Politik zunehmend an Minderheiten ausgerichtet

 

Dass die Befürworter mehr staatlicher Regulierungen die Gunst der Krisenstunde nutzen, kann man ihnen nicht verdenken. Den „Kollateralnutzen“ streichen sie gerne ein. Da der „Energiekrieg“ (Christian Lindner) und die Inflation fast alles überdecken, können die Ampelparteien zugleich an einem anderen, ganz wichtigen Ziel arbeiten, ohne dass dies allzu sehr auffiele: an der „Modernisierung der Gesellschaft“, laut Robert Habeck der „Glutkern“ der Koalition. Das neue rot-grün-gelbe Deutschland soll ein feministisches sein und zudem eines, das Minderheiten jeglicher Art nicht mit dem ihnen zustehendem Respekt behandelt, sondern seine Politik zunehmend an Minderheiten ausrichtet.

 

Den Glutkern-Anliegen ist eines gemein: Sie belasten die Staatskasse nicht sonderlich, haben aber das Zeug, die Gesellschaft nachhaltig zu verändern. Die Politik geht – ungeachtet aller Toleranz-Bekundungen – einher mit einer Verächtlichmachung solcher Überzeugungen, die auf christlich-abendländischen Werten fußen. Dass das Außenministerium das seit 350 Jahren im Ratssaal der Stadt Münster stehende Kreuz für das Treffen der G 7-Außenminister entfernen ließ, spricht Bände. Wenn Annalena Baerbock im Nachhinein beteuerte, sie habe davon nichts gewusst, kann man das glauben oder auch nicht. Einen Muezzin-Ruf hätte ihr Stab wegen des Besuchs christlicher Staatsgäste sicher nicht verboten.

 

Zum „modernisierten“ Deutschland zählt auch die Abschaffung des Paragraphen 219a, der die Werbung für Abtreibungen untersagte. Dass dies lediglich die Vorstufe für eine Streichung des Paragraphen 218 war, ist anzunehmen. Voller Verachtung für alle, die den Schutz ungeborenen Lebens für wichtig halten, feierten mehrere weibliche FDP-Abgeordnete ihren Sieg. In einem Video tanzten sie einen Bundestagsflur entlang. Dazu ertönte der Song „Short Dick Man“ über einen schrumpeligen Mann mit kurzem Penis. Mangelnder Respekt gegenüber Andersdenkenden gehört offenbar ebenfalls zum rot-gelb-grünen „Glutkern“.

 

Durchsetzung politischer Projekte ohne öffentliche Diskussion

 

SPD, Grüne und FDP verbindet zudem eine großzügige Einbürgerungspolitik. Wer es irgendwie nach Deutschland schafft, hat künftig beste Aussichten auf Dauer hierbleiben zu dürfen. Wenn es für den Asyl-Status nicht reicht, dann wird aus dem Zugewanderten eben eine Fachkraft. Zugleich soll der Zugang zur doppelten Staatsbürgerschaft erleichtert werden. Davon profitieren werden alle, die sich partout nicht uneingeschränkt zu Deutschland bekennen, gleichwohl alle Rechte eines Deutschen beanspruchen wollen.

 

Im Ampel-Deutschland soll die Ehe zu einem Modell werden, das es auch noch gibt – neben der neuen „Verantwortungsgemeinschaft“. Zu der sollen sich mehrere Erwachsene zusammenschließen können – mit mehr oder weniger denselben Rechten wie Eheleute, aber weniger Pflichten. Da kann dann ein alternder Daddy sich mit zwei Gespielinnen zusammentun, und dabei sogar Steuern sparen. Das hat dann mehr mit Gemeinschaft als mit Verantwortung zu tun.

 

Die sexuelle Selbstbestimmung wird dank der Glutkern-Politik so aussehen, dass jeder 14-Jährige auf dem Standesamt sein Geschlecht ändern und die Änderung widerrufen kann. Auch dieses Projekt treibt die Koalition zielstrebig voran, ohne dass dies öffentlich groß diskutiert würde. Inflation und Energiepreise erscheinen den Menschen zurzeit wichtiger, ein Vorteil für alle Identitätspolitiker, denen keine Minderheit zu klein ist, um sie nicht so zu behandeln, als handle es sich um große Teile der Gesellschaft. Pech für die große Mehrheit, deren Mitglieder nicht zu einer tatsächlichen oder vermeintlichen Opfergruppe gehören.

 

Es stimmt schon: In jeder Krise steckt eine Chance. Die Staatswirtschaftler und Identitätspolitiker dieser „Fortschrittskoalition“ nutzen sie für die Umgestaltung des Landes – hin zum Vollkasko-Staat und zu einer von Minderheiten geprägten Gesellschaft.


Unser Gastautor

Dr. Hugo Müller-Vogg, ehemaliger F.A.Z.-Herausgeber, zählt zu den erfahrenen Beobachtern des Berliner Politikbetriebes. Als Publizist und Autor zahlreicher Bücher analysiert und kommentiert er Politik und Gesellschaft. www.hugo-mueller-vogg.de und www.facebook.com/mueller-vogg

 

 


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