Palmer ist eine eigene Marke

Tübingens grüner Oberbürgermeister triumphiert als unabhängiger Kandidat bereits im ersten Wahlgang

Bei der OB-Wahl in Tübingen am 23. Oktober 2022 hat Boris Palmer 52,4 Prozent aller abgegebenen Stimmen erhalten. (Bild: Alexander Gonschior)
Bei der OB-Wahl in Tübingen am 23. Oktober 2022 hat Boris Palmer 52,4 Prozent aller abgegebenen Stimmen erhalten. (Bild: Alexander Gonschior)

 

Von Wolfgang Molitor

 

Die Demokratie lebt vom Streit, und wer klare Aussagen macht, mobilisiert die Demokraten. Der Satz darf als Zukunftsparole verstanden werden, und er verspricht wenig Änderung. Denn er stammt, natürlich auf Facebook gepostet, von Boris Palmer höchstpersönlich - nur wenige Stunden, bevor der Tübinger Oberbürgermeister seinen grandiosen, so nicht unbedingt erwarteten Wahltriumph feiern durfte.

 

Es ist ein ganz und gar persönlicher Erfolg für den 50-Jährigen. Von der irritiert-empörten grünen Heimatpartei verstoßen und mit dem kompromissschweren Kainsmal einer bis Ende 2023 ruhenden Mitgliedschaft gezeichnet, hat Palmer als unabhängiger Bewerber zwei äußerst respektable Konkurrentinnen deutlich auf Distanz gehalten, die von den offiziellen Grünen und der von der FDP unterstützten SPD auserkoren worden waren. Überraschend klar mit 52,4 Prozent und – bereits zum dritten Mal – im ersten Wahlgang.

 

Die Herausforderinnen waren mit großen Hoffnungen angetreten – explizit gegen die Person Palmer, gegen den Quertreiber und Aufreger, dessen Liebe zur vorlauten Provokation und politisch schmuddeligen Unkorrektheit oft überzogene volkspädagogische Linksempörung ausgelöst und der OB-Wahl bundesweit ein mediales Interesse wie bei einer bedeutsamen Landtagswahl beschert hatte.

 

Vorbild für eine ökologische Kommunalstrategie

 

Dennoch („nur deswegen“ zu sagen, wäre falsch) hat Palmer eine wie selten auf - oder richtiger - gegen eine Person zentrierte Wahl gewonnen, bei der die politische Konkurrenz erst gar nicht versucht hatte, die Erfolge des Unberechenbaren infrage zu stellen, der Tübingen zur grünen Vorzeigestadt gemacht hat. Denn die sind nicht zu bestreiten. Der ökologische Umbau des Stadtverkehrs, die nahezu perfekte Kombination von moderner Wirtschafts- und kluger Umweltpolitik hat die 90.000-Einwohner große Universitätsstadt weit über Palmers egozentrische Unbesonnenheiten hinweg bundesweit für Viele zum Vorbild einer ökologischen Kommunalstrategie gemacht.

 

Palmers Sieg wird zudem durch die nicht nur für eine OB-Wahl sehr hohe Wahlbeteiligung von 62,3 Prozent geadelt. Im benachbarten Stuttgart wird der grüne Ministerpräsident, Palmer durchaus zugetan, mit Interesse zugeschaut haben. Jeweils rund 22 Prozent für die SPD- und Grüne-Bewerberin zeigen, wie stark eine herausfordernde, auch polarisierende Persönlichkeit dieses moderat-linke Milieu unter Druck setzen kann. Palmers Kurs, immerhin seit 16 Jahren, hat die bürgerliche und mittelständische Mitte überzeugt - ein Milieu weit über das akademische Umfeld hinaus - das sich die ökologischen Zumutungen des alten und neuen OB auch deshalb wohlwollend gefallen lässt, weil dahinter ein erkennbarer Plan steht. Bis 2030 will Palmer aus Tübingen Deutschlands erste klimaneutrale Stadt machen. Seine Wähler trauen es ihm zu.

 

Palmer hat seinen Platz in Tübingen gefunden

 

Winfried Kretschmann wird alles daransetzen, 2026 von diesem Kurs (von Palmer‘schen Ausfälligkeiten gereinigt) bei der nächsten Landtagswahl in Baden-Württemberg einiges umzusetzen. Höchstwahrscheinlich wird der heute 74-Jährige dann nicht mehr als öko-konservatives Flaggschiff antreten. Für die Südwest-Grünen ist das eine personelle und inhaltliche Herausforderung. Denn die Tübinger Interna zeigen, dass es keineswegs ausgemacht ist, dass sich die Grünen widerstandslos in Kretschmanns mehrheitsfähiges Erbe fügen werden.

  

Bis dahin ist es noch weit. Palmer hat seinen Platz in Tübingen gefunden. Eine Landes-Karriere ist weder geplant noch der Delegierten-Ebene seiner Partei vermittelbar. Längst verkörpert Palmer eine eigene Marke, die kaum mehr in ein Parteikorsett passt. Auch das ist eine Botschaft aus Tübingen über die Stadtgrenzen hinweg.

 


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