Die Rettung der Koalition ist Scholz wichtiger als das Land

Ein Vergleich mit seinen SPD-Amtsvorgängern Schmidt und Schröder fällt für den jetzigen Kanzler nicht schmeichelhaft aus
Bundeskanzler Olaf Scholz. (Foto: Tobias Rehbein)
Bundeskanzler Olaf Scholz. (Foto: Tobias Rehbein)

 

Von Hugo Müller-Vogg

 

Mit einem angeblichen Machtwort hat Olaf Scholz den Streit innerhalb der Ampel-Koalition beendet. Doch der Kompromiss kann im Energiekrieg gegen Russland nur als Augenwischerei verstanden werden. Bundeskanzler Scholz ist schlichtweg nicht aus demselben Holz geschnitzt wie ein Helmut Schmidt oder Gerhard Schröder, die in ihrer Amtszeit zum Wohle Deutschlands auch unpopuläre Entscheidungen trafen.

 

Spät hat Olaf Scholz das Ampel-Gehampel um den Weiterbetrieb von drei Kernkraftwerken mit einem Machtwort beendet. Mit drei Meilern, die noch bis Mitte April nächsten Jahres Strom liefern dürfen, hat er im Energiekrieg gegen Russland nicht viel gewonnen. Genau genommen hat er nur verhindert, dass das rot-grün-gelbe Bündnis schon jetzt zerbricht.

 

Mit der Weisung an die Minister Robert Habeck und Steffi Lemke (Die Grünen) und Christian Lindner (FDP) hat Scholz insofern Führung gezeigt, als er die beiden kleineren Koalitionspartner in dieser Frage zum Kompromiss zwang. Eine für das Land wegweisende Entscheidung war das freilich nicht. Denn die Wahrscheinlichkeit, dass die Energiekrise nach dem 15. April 2023 vorbei sein könnte, ist ähnlich gering wie die einer absoluten Mehrheit der SPD in Bayern.

 

„Koste es, was es wolle. Und sei es die Kanzlerschaft“

 

Gerhard Schröder, der letzte sozialdemokratische Kanzler vor Scholz, taugt wegen seiner Putin-Treue nicht gerade als Leitbild. Doch hat er mit seiner „Agenda“-Politik vor zwei Jahrzehnten wesentlich mehr riskiert als jetzt Scholz. Zur Überwindung der Wirtschaftskrise und zur Bekämpfung der rasant ansteigenden Arbeitslosigkeit brach er mit sozialdemokratischen Grundüberzeugungen, wonach allenfalls hartherzige Marktwirtschaftler Abstriche an Sozialleistungen vornehmen, aber nie und nimmer aufrechte Sozialdemokraten.

 

Schröder unterzog das Land damals einer Notoperation am offenen Herzen – ohne Betäubung. Das tat weh, und die SPD musste bei den folgenden Landtagswahlen bitter büßen. Letztlich kostete die „Agenda 2010“ Schröder die Kanzlerschaft. Aber die deutsche Volkswirtschaft hat von diesen sozialpolitischen Reformen lange profitiert. Hätte Schröder nach der schweren SPD-Wahlniederlage in Nordrhein-Westfalen im Mai 2005 nicht die Nerven verloren und Neuwahlen ausgerufen, hätte er 2006 vielleicht die Früchte seiner Politik ernten können. So aber zog Angela Merkel ins Kanzleramt ein und konnte auf der Grundlage der Schröderschen Politik gute Arbeitsmarktzahlen vorweisen.

 

Was damals für Schröder auf dem Spiel stand, beschreibt sein Biograf Gregor Schöllgen so: Schröder sei entschlossen gewesen, den längst überfälligen Reformkurs zu beginnen. „Koste es, was es wolle. Und sei es die Kanzlerschaft.“ Schöllgen anerkennend: Schröders Mut, „auch zum persönlichen Scheitern“, sei die „unerlässliche Voraussetzung“ für diese Politik gewesen. Die Inanspruchnahme der Richtlinienkompetenz durch Scholz wird kaum ein Historiker ähnlich beurteilen.

 

Helmut Schmidt gegen den Widerstand der Parteilinken

 

Aus anderem, härterem Holz war auch Helmut Schmidt, auf den sich Scholz gern beruft. Als die sozial-liberale Koalition von SPD und FDP 1982 vor allem wegen der Wirtschafts- und Finanzpolitik vor dem Bruch stand, wehrte er sich mit aller Kraft gegen das Drängen der SPD-Bundestagsfraktion, mit noch höheren Schulden eine aktivere Arbeitsmarktpolitik zu betreiben. „Ich kann leider die nationalökonomische Logik nicht ändern“, begründete er sein Nein zu einer höheren Kreditaufnahme: „Ich kann das nicht verantworten.“

 

Als Kanzler hatte Schmidt auch an der Nato-Nachrüstungspolitik festgehalten, gegen den erbitterten Widerstand der Parteilinken. Nachdem er von Helmut Kohl (CDU) durch ein konstruktives Misstrauensvotum abgelöst worden war, rückte die SPD schnell von Schmidt ab und kämpfte an der Seite der „Friedensbewegung“ gegen den Nato-Doppelbeschluss, also gegen die eigene Politik. Das beirrte Schmidt nicht. Auf dem Kölner SPD-Parteitag 1983 stimmte er zusammen mit gerade noch 14 von rund 400 Delegierten für die Fortsetzung seiner Sicherheitspolitik.

 

Erst die Partei, dann die Koalition, dann das Land

 

Die wurde dann auch konsequent umgesetzt – und zwar von seinem Nachfolger Kohl. Der hatte zwar in der eigenen Partei und in der neuen CDU/FDP-Koalition eine sichere Mehrheit für diesen Weg. Doch der neue Regierungschef sah, dass „Umfragen zufolge die überwiegende Mehrheit der westdeutschen Bevölkerung gegen die Stationierung neuer Atomwaffen in der Bundesrepublik“ war, wie er in seinen Memoiren schreibt. Und weiter: „Die Zahlen waren bemerkenswert, änderten aber nichts an meiner Überzeugung.“

 

Was Scholz wohl wirklich über AKW-Laufzeiten auch über das Frühjahr 2023 hinaus denkt? Für den Augenblick hat er sich koalitionspolitisch durchgewurstelt. Das Notwendige und Naheliegende, nämlich für einen Weiterbetrieb der drei Kraftwerke über den kommenden Winter hinaus zu sorgen, hat er nicht gewagt. Er handelte nicht nach dem Motto „erst das Land, dann die Partei“. Im Gegenteil. Das Scholzsche Prinzip lautete in diesem Fall: Erst die Partei, dann die Koalition, dann das Land.


Unser Gastautor

Dr. Hugo Müller-Vogg, ehemaliger F.A.Z.-Herausgeber, zählt zu den erfahrenen Beobachtern des Berliner Politikbetriebes. Als Publizist und Autor zahlreicher Bücher analysiert und kommentiert er Politik und Gesellschaft. www.hugo-mueller-vogg.de und www.facebook.com/mueller-vogg

 


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