Gibt es zweierlei Maß bei der Stimmabgabe?

Die Rechte des Wählers wurden in Berlin dermaßen gedankenlos verletzt, dass selbst die OSZE Kritik anmeldete

In der Folge der Chaoswahl am 26. September 2021 wurde Franziska Giffey am 21. Dezember 2021 zur Regierenden Bürgermeisterin von Berlin gewählt. (Symbolbild: Björn Eichenauer)
In der Folge der Chaoswahl am 26. September 2021 wurde Franziska Giffey am 21. Dezember 2021 zur Regierenden Bürgermeisterin von Berlin gewählt. (Symbolbild: Björn Eichenauer)

 

Von Wolfgang Kleideiter

 

Die Berliner Senatsverwaltung hat vorsorglich schon den Druck von zig Millionen Stimmzettel in Auftrag gegeben. Dies zeigt, dass man im Roten Rathaus von einer Neuauflage der Wahlen zum Abgeordnetenhaus und den Bezirksverordnetenversammlungen ausgeht. Alles andere als eine Wiederholung dieser Abstimmungen im kommenden Frühjahr wäre auch eine Überraschung. Was sich im September 2021 in der Bundeshauptstadt zugetragen hat, darf nicht ohne Konsequenzen bleiben.

 

Seit rund einem Jahr schon befasst sich der Verfassungsgerichtshof des Landes Berlin mit dem unglaublichen Versagen, sagen der Wahlorganisatoren. Obwohl die Verantwortlichen wussten, dass die Berliner ausgerechnet am Marathon-Sonntag in den Kabinen auch eine Marathonwahl mit fünf verschiedenen Wahl- und Abstimmungszetteln zu absolvieren hatten, trafen die sie kaum besondere Vorkehrungen. Zu wenig Kabinen, zu wenig Stimmzettel, zu kleine Wahllokale, eine mangelhafte Logistik. Die Folge: Wahlvorgänge bis 20 Uhr, zurückgewiesene Wähler, falsche Stimmzettel. Nach Sichtung aller 2256 Protokolle aus den Wahllokalen und Prüfung der eingeholten Stellungnahmen ließ der Verfassungsgerichtshof Ende September in der mündlichen Verhandlung durchblicken, dass die Wahlen zum Abgeordnetenhaus und den Bezirksverordnetenversammlungen in ganz Berlin wiederholt werden müssen.

 

Wahlfehler als Spitze eines Eisberges

 

Die Rechte des Souveräns – des Wählers – wurden am 26. September 2021 in Berlin dermaßen gedankenlos verletzt, dass selbst die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit (OSZE), die derartige Wahlen zu beaufsichtigen hat, Kritik anmeldete. Der Verfassungsgerichtshof des Landes Berlin sprach mit Blick auf die vielen festgestellten Wahlfehler sogar von der „Spitze des Eisbergs“.

 

Mitte November will das Gericht, das in diesen Tagen noch auf letzte Stellungnahmen aus dem Rathaus wartet, sein Urteil verkünden. Ab dann hat die Landeswahlleitung 90 Tage Zeit, die Wahl mit den identischen Stimmzetteln vom 26. September zu wiederholen. Es dürfen nur diejenigen wählen, die schon im September zur Wahl aufgerufen waren. Parlament und Landesregierung bleiben bis dahin im Amt. Die Frage, ob auch die nicht minder beschädigte Bundestagswahl in Berlin wiederholt werden muss, wird aufgrund fehlender Zuständigkeit nicht vom Verfassungsgerichthof Berlin beantwortet. Über die Gültigkeit entscheidet allein der Bundestag in einem eigenen Verfahren.

 

Ampel redet den Schaden klein

 

Doch während die Richter zu einem klaren Schluss kommen werden, redet vor allem die SPD in der Ampel-Koalition den Schaden weiterhin klein. Obwohl es um ein Recht mit Verfassungsrang geht, das in Berlin offensichtlich massiv verletzt wurde, und der Bundeswahlleiter deutliche Schritte fordert, soll die Bundestagswahl nur in 300 der 2256 Stimmbezirke wiederholt werden. So lautet tatsächlich der Vorschlag der SPD im Wahlprüfungsausschuss des Bundestages. Und erneut abgeben sollen die Berliner in diesen Bezirken dann auch nur die Zweitstimme. Grüne und FDP halten sich bedeckt, die Union will diesen Vorschlag aus der Trickkiste nicht mittragen.

 

Das Verhalten der SPD im Bundestag passt zum Umgang der rot-grün-roten Landesregierung mit dem gesamten skandalösen Vorgang. Sie gelobt Besserung, stellt sich aber bis heute vor Andreas Geisel, der als Innensenator bei der Wahl 2021 die Rechtsaufsicht hatte. Auch Geisel selbst, seit Dezember Senator für Stadtentwicklung, Bauen und Wohnen, lehnt bis heute trotz der chaotischen Wahlorganisation einen Rücktritt ab.

 


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