Wenn der Hausarzt schließt

2035 werden nach einer Studie fast 40 Prozent der Landkreise unterversorgt oder von Unterversorgung bedroht sein

Ein Hausarzt spricht in seinem Behandlungszimmer mit einem jungen männlichen Patienten. (Foto: iStock/gorodenkoff)
Ein Hausarzt spricht in seinem Behandlungszimmer mit einem jungen männlichen Patienten. (Foto: iStock/gorodenkoff)

 

Von Wolfgang Molitor

 

Der Bundesrat hat die Coronaregeln für Herbst und Winter beschlossen. Und so schaut man auf dem am Freitag zu Ende gegangenen Hausärztetag nach vorn. Aber nicht nur auf Corona. Angesichts der bevorstehenden Grippesaison werben die Mediziner vor allem für die Schutzimpfung gegen Influenza. Denn die Zielvorgaben der Europäischen Union, wonach 75 Prozent der älteren Menschen gegen Grippe geimpft werden sollen, wird in Deutschland bisher nicht annähernd erreicht: Die bundesweite Impfquote in der Grippesaison 2019/2020 lag bei den über 60-Jährigen nur bei 38,8 Prozent.

 

Das ist der Alltag in den rund 30.000 Praxen, die dem Hausarztverband angehören. Und der wird in der Regel, wenn auch mit immer wachsenden individuellen Anstrengungen, schweren Digitalisierungsrückschlägen, politischen Auflagen und wirtschaftlichen Herausforderungen gemeistert. Geht der Blick aber noch viel weiter nach vorn, werden die Sorgenfalten vieler Praxisinhaber und vor allem im ländlichen Raum zu versorgenden Patienten immer tiefer.

 

40 Prozent der Landkreise in Zukunft unterversorgt

 

Einer Studie der Stuttgarter Bosch-Stiftung zufolge werden im Jahr 2035 bundesweit etwa 11.000 Hausärzte fehlen. Rund 40 Prozent aller Landkreise werden demnach unterversorgt oder von Unterversorgung bedroht sein, hat das Berliner IGES Institut im Auftrag der Stiftung ermittelt. Insbesondere in Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Sachsen und Baden-Württemberg könnte es künftig für Bürger schwierig werden, einen Hausarzt zu finden. In einigen Landkreisen geht die Zahl der Hausärzte dort bis 2035 um rund 50 Prozent zurück.

 

„Im Extremfall müssen Patienten in unterversorgten Kreisen damit rechnen, in ihrem Umfeld keinen einzigen niedergelassenen Hausarzt zu haben“, sagt Hans-Dieter Nolting, Versorgungsforscher und Geschäftsführer des IGES Instituts. Während der Hausarztmangel bislang vor allem in ländlichen Regionen als Problem bekannt ist, werden in absehbarer Zeit zunehmend auch städtische Gebiete betroffen sein. In einigen mittelgroßen Städten wird es 2035 rund 20 Prozent weniger Hausärzte geben. 

 

Zu wenige Nachwuchsmediziner lassen sich im ländlichen Raum nieder. Die Gründe für die drohende Versorgungslücke sind nicht neu. Sie liegen in der Altersstruktur der derzeit praktizierenden Hausärzte und der beruflichen Orientierung der nachwachsenden Ärztegeneration. Die Zahlen alarmieren auch Bürgermeister und Verwaltungen, die ihren Grundauftrag der medizinischen Versorgung auf Dauer gefährdet sehen. Bis 2035 könnten altersbedingt fast 30.000 Hausärzte ausscheiden. Und die freiwerdenden Hausarztsitze werden Nachwuchsärzte und zugewanderte Ärzte nicht in gleicher Zahl besetzen, weil sich zum einen wenige Nachwuchsmediziner dafür entscheiden, sich als Hausarzt niederzulassen, zum anderen, weil sich junge Ärzte und vor allem Ärztinnen statt Einzelpraxen zunehmend Angestelltenverhältnisse und Teilzeitmodelle sowie eine stärkere multiprofessionelle Zusammenarbeit wünschen.

 

Damit nicht genug. Denn gleichzeitig verändert sich der Bedarf an medizinischer Versorgung und Unterstützung in der Bevölkerung. Der demografische Wandel führt dazu, dass sich das Krankheitsspektrum verschiebt. Das heißt: Immer mehr ältere Menschen mit chronischen und Mehrfacherkrankungen kommen zum Hausarzt, der damit eine individuelle Betreuung leisten sollte, die weit über die medizinische Versorgung hinausgeht.

 

Arztsuche als kommunale Aufgabe

 

Viele ländliche Gemeinde gehen daher neue Wege. Etwa in Osterburken im Neckar-Odenwald-Kreis, wo man sich im Rathaus seit 2016 mit dem Thema beschäftigt. Die ärztliche Versorgung ist zwar keine kommunale Aufgabe, aber vielerorts, wie auf der Insel Langeoog, traut man der Kassenärztlichen Vereinigung bei der Lösung nicht viel zu. Und so beschloss der Osterburker Rat, Ärzte bei der Suche nach Grundstücken und Wohnungen zu unterstützen, angehenden Medizinern kostenfreien Wohnraum zu besorgen und Stipendien zu vergeben.

 

Die engagierten Versuche vor Ort schaffen es so, manche verwaiste Praxis mittelfristig wieder zu besetzen. Aber natürlich ist das nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Die Studienautoren der Bosch-Stiftung jedenfalls raten zu einem raschen Umbau des alten Versorgungssystems. Die sogenannte Primärversorgung (also die Ebene, auf der die Menschen zuerst mit dem Gesundheitssystem in Kontakt kommen) – nimmt den Wissenschaftlern zufolge dabei eine Schlüsselfunktion ein. „Ein wichtiger Baustein ist der Aufbau von lokalen, inhaltlich umfassenden Gesundheitszentren, in denen multiprofessionelle Teams von Ärztinnen und Ärzten sowie Pflegenden mit anderen Gesundheitsberufen die Patienten bedarfsorientiert behandeln und optimalerweise deren familiäre und lebensweltliche Umstände kennen“, sagt Doris Schaeffer, Professorin für Gesundheitswissenschaften an der Universität Bielefeld. Primärversorgungszentren können zudem einen Beitrag leisten, die Kostenentwicklung im Gesundheitswesen in den Griff zu bekommen, da sie eng in die Kommunen eingebunden sind, eine effiziente Leistungserbringung ermöglichen und einen Fokus auf Prävention legen. 

 

Bis dahin wird es allen Beteuerungen zum Trotz ein weiter Weg in einem System sein, in dem viele Köche mit eigennützigen Rezepten in einem milliardenschweren Topf rühren. 

 


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