Kalte Hände, heißer Herbst?

Inflation, Energie, Gasumlage: Die Krisen bedeuten Protestpotenzial. Und könnten ohne starke politische Führung für Radikalisierungstendenzen sorgen
Junger Mann als ultra- und radikal-anarchistischer Randalierer. (Symbolbild: iStock/Marcos Calvo)
Junger Mann als ultra- und radikal-anarchistischer Randalierer. (Symbolbild: iStock/Marcos Calvo)

 

Von Wolfgang Molitor

 

So haben sich viele ihre Solidarität mit der überfallenen Ukraine nicht vorgestellt. Sicher, unvorstellbare 100 Extra-Euromilliarden für die Bundeswehr, milliardenschwere Flüchtlings- und Aufbauhilfen aus dem tiefen Brunnen des Bundesetats obendrein, schweres deutsches Gerät an die Russen-Front, auch das zur Not. Ansonsten aber hält man es in deutschen Landen dann doch eher mit gelb-blauen Fähnchen allerorten, Solidaritätskonzerten und Lebensmittelsammlungen an der Discounter-Kasse.

 

Doch wenn die Einschläge, wenn auch nur finanziell, näherkommen, Einsparungen und Einschränkungen durch explodierende Inflation und die unabsehbar folgenschwere Energiekrise erzwingen, wenn es darum geht, seine persönlichen Gewohnheiten umzuschichten, um im Winter nicht zu frieren, dann könnte die große Solidarität beginnen, zu bröckeln. Und wieder Zigtausende, manche - noch vom Corona-Aufschrei agitatorisch erreichbar -, zum Protest auf die Straße treiben. Extremismusforscher jedenfalls halten das für möglich. Aber dafür sind sie ja schließlich da.

 

Extremisten von links und rechts: „Gezielte Attacken“

 

Die Bundesinnenministerin jedenfalls warnt schon einmal vor „gezielten Attacken“, sprich Anschlägen, auf den Energiesektor, deren große Anlagen zumeist im ländlichen Raum zu finden sind. Nancy Faeser gibt dabei die Tonlage für die kommenden Wochen vor: Sie warnt davor, dass Extremisten von links und rechts „legitimen Protest“ missbrauchen. Wie in der Corona-Krise, wie bei Klimaprotesten.

 

Das ist ein dünnes Eis, auf das sich die Politik begibt. Wenn im Herbst die Inflation weiter steigt, die Tarifabschlüsse da bestenfalls ein Ausgleich sind, wenn das Hin und Her einer schon jetzt erkennbar unkoordinierten und unentschlossenen Corona-Impfkampagne alte Gegenreflexe freilegt, wenn die Gasrechnungen nicht nur ärmere Familien in Zahlungsnot bringen – dann darf sich niemand wundern, wenn sich der Unmut auf die Straße verlagert. Rechts- und Linksextremisten müssen nur abwarten.

 

Mag das Kalkül der AfD auch nicht aufgehen, den Sinn oder zumindest die Verhältnismäßigkeit der Russland-Sanktionen in Frage zu stellen: Gewerkschaften, Industrie, Wohlfahrtsverbände, Schulen, Mieterbund und soziale Lobbyisten werden nicht müde, Unausgewogenheit und Ungerechtigkeit anzuprangern. Mag die Bundesregierung finanziellen Ausgleich und zum wiederholten Male Entlastungen liefern und den Blick auf die schwächeren Einkommensschichten richten: Es wird ihr nicht gedankt. Die einen werden viel mehr wollen, die anderen nicht viel mehr abgeben wollen – keine Regierung kann sich aus diesem Teufelskreis befreien. Wer da wie Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck von „gerechten Zumutungen“ redet, braucht besondere Standfestigkeit.

 

Politik muss klug und überzeugend handeln

 

Es sei denn, Politik kann ihren harten Kurs klug und überzeugend vermitteln. Geschlossen und entschlossen. Ohne Ampel-Gehampel. Das wäre dann die bisher vermisste politische Führung. Die Bundesregierung kann sich an die Spitze der Hilfen stellen, ohne sich vor Interessen gelenkten Forderungen zu ducken. Sie darf keine Angst vor aktuellen Umfragen haben, weil erst am Ende im Licht der Ergebnisse abgerechnet, belohnt und abgestraft wird. Sie wird nein sagen müssen, um den Staat handlungsfähig zu halten. Glaubwürdig und kompetent.

 

Erheblichen Protest in einem heißen Herbst wird sie dennoch nicht verhindern können, wenn die Hände der Menschen in Schulen, Büros oder Wohnungen kälter als gewohnt sind. Sie wird in einigen Gesellschaftsschichten mit harten Bandagen für die Akzeptanz der Demokratie kämpfen und verschwörungsideologischen Weltbildern mit aller Macht entgegentreten müssen. Angst ist da ein schlechter Ratgeber. Panikmache auch. Noch hat es die Bundesregierung, haben es alle demokratischen Mahner, wie unzufrieden sie auch sein werden, selbst in der Hand, die Krisen halbwegs unbeschadet zu überstehen. Ohne den Hetzern von rechts und links sehenden Auges das Feld und die Straße zu überlassen.

 


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