Wer bewirbt sich bei wem?

Die Lage auf dem Fachkräftemarkt hat sich dramatisch zugespitzt

Eine Kellnerin mit Maske serviert auf der Terrasse eines Restaurants (Symbolbild: iStock/Halfpoint)
Eine Kellnerin mit Maske serviert auf der Terrasse eines Restaurants (Symbolbild: iStock/Halfpoint)

 

Von Wolfgang Molitor

 

Das mit dem Bewerbungsgespräch ist so eine Sache. Längst fragen sich die Arbeitgeber in vielen Branchen, wer sich da eigentlich bewirbt: der händeringend Fachkräfte suchende Personalchef oder nicht doch der qualifizierte Arbeitnehmer. Schon jetzt steht fest: Unternehmen müssen sich generell stärker um die dringend benötigten Bewerber bemühen. Denn die Zahlen entwickeln sich für immer mehr Firmen dramatisch: Im ersten Quartal dieses Jahres gab es bundesweit eine Rekordzahl von 1,74 Millionen offenen Stellen. Das hat das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) ermittelt.

 

Damit ist der Rekord vom Vorquartal erneut geknackt. Gegenüber dem ersten Quartal 2021 stieg die Zahl der offenen Stellen um 612.500. Das sind 54 Prozent, obwohl der demografische Wandel erst in einigen Jahren mit voller Wucht über die Republik hinwegrollen dürfte.

 

Die Lage auf dem Fachkräftemarkt hat sich dramatisch zugespitzt. Auch in einem so starken Wirtschaftsland wie Baden-Württemberg. Nach Erkenntnissen der jüngsten IHK-Umfrage ist demnach für fast 60 Prozent der teilnehmenden Unternehmen der Fachkräftemangel eines der drängendsten Probleme.

 

Ländlicher Raum besonders betroffen

 

Gerade der ländliche Raum ist davon besonders betroffen. Können die großen Konzerne in den Ballungsräumen trotz Wohnungsmangel und hoher Mieten mit Zulagen, großzügigen Bonus-Zahlungen, Gewinnbeteiligungen oder sozialen Angeboten noch immer punkten, bekommen die kleineren und mittleren Betriebe auf dem Land die übermächtige Konkurrenz zu spüren. Gute Leute können nur schwer gehalten werden, wenn der kleine Familienbetrieb ganz anders um jeden Euro kämpfen muss. Hinzu kommen die üblichen Probleme: zu wenig Mobilität, zu knappes Kultur-Angebot, zu weite Schulwege und vieles andere mehr.

 

Besonders betroffen ist die Gastrobranche: Dort halten mehr als 71 Prozent der Unternehmen die Personallücken für das größte Geschäftsrisiko. Wenn Sommerfeste abgesagt werden müssen, weil das Personal fehlt, oder immer öfter nur noch eine Vier-Tage-Woche personell zu stemmen ist, ist es bereits fünf nach zwölf. Und die Perspektiven sind düster: Laut dem IHK-Fachkräftemonitor wird das Angebotspotenzial im Land bis 2035 um etwa 27 Prozent abnehmen. Absolut betrachtet stehen 2035 voraussichtlich etwa 1,12 Millionen Fachkräfte weniger zur Verfügung als 2022.

 

Vom Überschuss zum Mangel

 

Wie angespannt die Lage ist, zeigt die Tatsache, dass sich der Fachkräfteüberschuss von 2019 in nur drei Jahren in einen Mangel von 97.000 Leuten gedreht hat. Bis 2035 könnte er sich auf 910.000 vergrößern – auch wenn zu bedenken ist, dass technische Fortschritte wie Digitalisierung, Automatisierung und Künstliche Intelligenz zumindest teilweise Aufgaben übernehmen können.

 

Bei den beruflich Qualifizierten wächst laut den Prognosen die Lücke auf 835.000 an. Der größte absolute Mangel dürfte sich 2035 mit 600.000 bei den beruflich qualifizierten kaufmännischen Fachrichtungen zeigen, gefolgt von technischen Fachrichtungen. Momentan entfällt der Großteil der nachgefragten Fachkräfte auf das Gesundheits- und Sozialwesen mit 563.000 sowie beratende und wirtschaftsnahe Dienstleistungen mit 424.000 Personen. Auch 2035 werden diese Branchen weiter am meisten Fachkräfte nachfragen. An dritter Stelle liegt der Einzelhandel.

 

Auch Nicht-Akademiker betroffen

 

Aber auch bei den nicht-akademischen Berufsgruppen spitzt sich die Lage zu. Bis 2035 weisen Büro- und Sekretariatsberufe mit mittlerer Qualifikation den größten Engpass auf. Während bei höheren Qualifikationen bereits heute ein Mangel herrscht, dreht auch bei den mittleren Qualifikationen die Entwicklung bis 2035 von einem Überschuss in einen deutlichen Mangel – etwa bei den Verkaufsberufen.

 

In vielen Betrieben hat man den Ernst der Lage noch nicht richtig erkannt. Bei der Ausbildung neuer Fachkräfte gibt es weiter in etlichen Branchen und Betrieben ebenso Defizite wie bei der Weiterbildung. Denn das kostet zusätzlich Geld und Zeit. Auch bei der höheren Erwerbsbeteiligung von Frauen und älteren Menschen, der Qualifizierung ungelernter Arbeitskräfte sowie einer unerlässlichen Zuwanderung, dem Abbau von Bürokratie und dem Fortschritt bei der Digitalisierung gibt es noch eine Menge Nachholbedarf.  

 


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