Abstimmung mit den Füßen

Immer mehr junge Familien verlassen die Großstädte und ziehen in weniger dicht bewohnte Gebiete

Immer mehr junge Familien verlassen die Großstädte und ziehen aufs Land. Dies könnte in der Zukunft zu einem weiter steigenden Einfamilienhausbau außerhalb der Großstädte führen. (Fotos: Anastasia Gepp/Catkin)
Immer mehr junge Familien verlassen die Großstädte und ziehen aufs Land. Dies könnte in der Zukunft zu einem weiter steigenden Einfamilienhausbau außerhalb der Großstädte führen. (Fotos: Anastasia Gepp/Catkin)

 

Von Jürgen Wermser

 

Steigende Miet- und Immobilienpreise haben die Bürger und Politik alarmiert. Zu Recht, denn ausreichend großer und zugleich bezahlbarer Wohnraum gehört zu den Grundbedürfnissen der Menschen aller Altersgruppen. Die neue Bundesregierung gibt deshalb das Ziel aus, jährlich 400.000 neue Wohnungen zu schaffen. Im vergangenen Jahr dürften aber nach Expertenschätzung gerade mal 315.000 Wohneinheiten neu errichtet worden sein. Sinkende Gewinnmargen machen es für viele Investoren unattraktiv, ihr Geld in Immobilien zu stecken. Und wenn gebaut wird, dann häufig auch noch zu klein und an falscher Stelle - sprich in den Metropolen statt im Umland beziehungsweise im ländlichen Raum. Dies ergibt sich aus dem jüngsten Frühjahrsgutachten der sogenannten Immobilienweisen im Auftrag des Branchendachverbands ZIA.

 

Weniger große Wohnungen

 

Ein zentrales Problem ist: Der Wohnungsneubaugerade bei Geschosswohnungen in den Großstädten – geht derzeit an den Bedürfnissen von Familien völlig vorbei. So hat sich laut Frühjahrsgutachten im Neubau der Anteil der Wohnungen mit vier und mehr Räumen (zuzüglich Bad, Flur, aber bereits inklusive Küche) in den größten sieben Städten (Berlin, Hamburg, München, Köln, Düsseldorf, Frankfurt und Stuttgart) von rund 60 bis 80 Prozent in den 2000er Jahren stetig auf zuletzt 20 bis 30 Prozent mehr als halbiert.

 

Noch deutlicher ist laut Gutachten der Rückgang bei Wohnungen mit fünf und mehr Zimmern. Hier sank der Anteil von 30 bis 50 Prozent auf zuletzt nur noch 10 bis 20 Prozent ab. „Gelingt hier keine Trendwende, ist mit einer nochmals zunehmenden Abwanderung der Familien und in der Folge mit einem steigenden Einfamilienhausbau außerhalb der Großstädte zu rechnen“, konstatieren die Experten.

 

Die Jungen bleiben nur auf Zeit

 

Wanderungsgewinne erzielen die sieben größten Städte nur noch bei den 18- bis 30-Jährigen – ebenfalls mit sinkender Tendenz. Kamen früher die meisten jungen Menschen in die Metropolen, um dort auch zu bleiben, so verlassen sie nun die Städte nach der Familiengründung, betonen die Gutachter. Zunehmend steige im Umland auch die Zahl der „städtischen“ Angebote von Geschäften über Restaurants bis Fitnessstudios. Vor allem aber nehme die Zahl „gleichgesinnter Ex-Städter“ immer weiter zu, bis zu dem Punkt, dass gerade junge Familien eher im Umland ihresgleichen finden als in der Kernstadt, so die Einschätzung der „Immobilienweisen“.

 

Dieser tiefgreifende Umbruch wird von zu vielen großstädtischen Bürgern und Politikern immer noch verkannt oder verdrängt. Sie stehen weiterhin unter dem Eindruck, dass die Metropolen in Deutschland stetig und schier unaufhaltsam wachsen würden. Dabei genügt ein kurzer Blick in die Vergangenheit, um dieses scheinbare „Naturgesetz“ zu widerlegen.

 

Für die nächsten Jahre könne eine Rückkehr der sieben größten Städte zu ihren früheren Wachstumsraten praktisch ausgeschlossen werden, betonen die „Immobilienweisen“. Sie halten sogar eine länger anhaltende Schrumpfung der Metropolen für denkbar und verweisen auf die letzte Schrumpfungsphase in den 1960er bis 1990er Jahren. Auch diese habe im Anschluss an eine Phase stürmischen Wachstums und entsprechender Mietsteigerungen und gleichzeitiger flächendeckender Vollbeschäftigung und Arbeitskräftemangel eingesetzt. So sei in Hamburg die Zahl der Einwohner von 1964 bis Ende der 1980er Jahre um rund 290.000 Einwohner gesunken und liege trotz des Wiederanstiegs seither immer noch leicht unter dem bisherigen Höchstwert von 1964.

 

Weniger Schüler in Metropolen

 

Diese Trendwende hat weitreichende Konsequenzen für den weiteren Ausbau der öffentlichen Infrastruktur und das Verteilen der staatlichen Ressourcen zwischen Stadt und Land. Beispiel Schule. Allein im Jahr 2020 verloren die sieben Großstädte zwischen ein und mehr als zwei Prozent der Kinder durch Wanderungen.

 

Angesichts dieser Entwicklung sollte es naheliegen, dass sich die Politik wesentlich stärker den Herausforderungen und Chancen im außerstädtischen und ländlichen Bereich zuwendet. Denn generell gilt: Der Staat muss vor allem dort helfen und investieren, wo immer mehr Familien ihre Zukunft sehen - außerhalb der Metropolen.

 


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