Ohne Rücksicht auf Verlust

Wer hinterm Lenkrad sitzt, soll offenbar in Münster das Fürchten lernen

Wer in der Altstadt von Münster mit dem Auto unterwegs ist, braucht starke Nerven. (Symbolbild: Gustav Sommer)
Wer in der Altstadt von Münster mit dem Auto unterwegs ist, braucht starke Nerven. (Symbolbild: Gustav Sommer)

 

Von Wolfgang Kleideiter

 

Verkehrsversuche liegen im Trend. Ob in Lübeck, Darmstadt, Jena oder Gießen – kreuz und quer durch die Republik wird innerstädtischer Verkehr auf den Prüfstand gestellt. Blech raus – Grün rein, lautet eine Formel. Durchgangsachsen werden gekappt, alte Verkehrsverbindungen ins Zentrum beerdigt, Fahrradstraßen geboren. Innenstädte sollen mit „Aufenthaltsqualität“ punkten. Autos haben dort nichts mehr verloren. Viertel werden unter (Klima-)Schutz gestellt. Der „Auswärtige“ kann weiter gerne kommen - aber bitte mit Bus, Bahn, Taxi oder Rad.

 

Mal gelingt es, aus der Lernkurve ein von klugen Kompromissen getragenes Gesamtkonzept zu entwickeln, das Bewohnern und Besuchern gleichermaßen behagt. Mal leben die Ideengeber aber in der Filterblase, ignorieren Bedürfnisse von Unternehmen, lassen Kunden- und Pendlerströme außer Acht und ordnen alle Maßnahmen der eigenen Wunschwelt unter.

 

Brandbrief von vier Landräten

 

Im nordrhein-westfälischen Münster sorgt die Verkehrspolitik eines linken Ratsbündnisses nicht nur in der Stadt selbst für Unfrieden. Vier Landkreise im Umland fragen sich, wie das Oberzentrum mit seinen regional wichtigen Einrichtungen und Arbeitsplätzen künftig erreicht werden kann. Einen entsprechenden Brandbrief der vier Landräte hat auch Münsters Oberbürgermeister Markus Lewe (CDU), Präsident des Deutschen Städtetages, unterschrieben. Lewes Christdemokraten sind im Rat zwar stärkste Fraktion, den politischen Weg der Universitätsstadt mit über 300.000 Einwohnern bestimmt aber seit 2021 ein aus Grünen, SPD und Volt gebildetes Dreierbündnis.

 

Deren Verkehrspolitik gegen Autofahrer trägt rigorose Züge. Autofreie Altstadt, Schließung bzw. Umwidmung von zentralen Parkhäusern, unbedingte Vorfahrt für Radfahrer – wer hinterm Lenkrad sitzt, soll offenbar in Münster das Fürchten lernen. Vergessen wird dabei, dass Bus und Bahn aktuell überhaupt nicht in der Lage sind, zum Beispiel die 300.000 täglichen Pendlerfahrten abzuwickeln - von den daraus erforderlichen Stadtbesuchen ganz zu schweigen. Velo-Routen oder Park-and-Ride-Systeme gibt es erst in Ansätzen oder sie sind wie das Projekt „S-Bahn Münsterland“ mit schneller Taktung noch Zukunftsmusik.

 

Viele Unfälle nach Vorfahrt für Radler

 

Die Vorfahrt für Radler an einigen neuralgischen Ecken des über vier Kilometer langen Promenadenrings war selbst vielen fahrradaffinen Münsteranern zu viel. Nach Unfällen wurde der Asphalt an einer Versuchsstelle wieder aufgenommen. Fußgänger bekamen dort ihren Bürgersteig zurück.

 

Dass Münsters historisch geprägtes Straßennetz nicht für den aktuellen Verkehr ausgelegt ist, belegt eine Staustatistik des US-Unternehmens Inrix. Im vergangenen Jahr haben die Menschen in Münster im Schnitt 41 Stunden im Stau gestanden – mehr als in 2019 und 2020, trotz Pandemie und Homeoffice. Die Verkehrsversuche trugen durchaus dazu bei. So wurde dem Individualverkehr mehrere Monate in einer ohnehin verzwickten Lage (zwischen Ludgeri-Kreisel und LWL-Landeshaus) eine Spur weggenommen. Fortan sollten dort Busse freie Fahrt haben. Die Folgen für das angrenzende Bahnhofsviertel waren enorm – Anlieferer, Kunden, Mitarbeiter standen im Dauerstau. Der Versuch war ein Bärendienst fürs Klima.

 

Auf das Auto angewiesen

 

„Hier etwas basteln und dort etwas fummeln, das ignoriert die Notwendigkeit eines Gesamtkonzepts“, ärgerte sich Oberbürgermeister Lewe Ende Dezember in einem Zeitungsinterview. Im gemeinsamen Brandbrief mit den Landräten heißt es scharf: „Die Maßnahmen sind rücksichtlos gegenüber den Menschen der Region, die auf die Erreichbarkeit Münsters mit dem Auto angewiesen sind, solange es dazu keine brauchbare Alternative gibt.“

 

Münster unterscheidet sich mit seinen Angeboten kaum von anderen Großstädten. Es ist für insgesamt 1,5 Millionen Menschen im Münsterland ein Zentrum mit vielen Arbeitsplätzen, mit Schulen und Hochschulen, Behörden, Kliniken, Kammern, Gerichten, einem breit aufgestellten Handel, mit Theatern und Museen. Auch deshalb muss diese Stadt erreichbar sein und darf sich nicht im Alleingang einmauern und verschanzen.

 

Dies würde der Stadt und Region gleichermaßen schaden und widerspräche zutiefst einem von den großen Kommunalverbänden unterzeichnetem Kommuniqué „Leben auf dem Land“. Darin heißt es unter anderem, dass sich die Verkehrsangebote dem Mobilitätsverhalten der Bevölkerung flexibel anpassen müssen. Eine Anbindung an die großen Zentren sei dabei sicherzustellen. Einseitig kappen – wie das linke Bündnis es praktiziert – darf man sie schon gar nicht. 

 


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