Provinz ist kein Schimpfwort

 

Von Michael Lehner

 

Das Weihnachtslied von der Stillen Nacht singen die Menschen in 320 Sprachen. Nicht nur in Dorfkirchen, sondern auch in den Kathedralen dieser Welt. Geschrieben haben Text und Noten zwei Pfarrer aus der Salzburger Provinz. Wenn Kultur das meint, was Herz und Gemüt erreicht, ist Kunst kein Privileg der Metropolen. Denn diese schöpfen ihr Kapital auch bei den Schönen Künsten aus dem flachen Land.

 

Entstanden ist das Wort Provinz in heutiger Bedeutung in der Römerzeit. Geprägt durch Vorherrschaft der Zentralmacht. Und durch Ausbeutung, gegründet auf das Recht des Stärkeren. Nicht nur in der katholischen Kirche ist bis heute ein Spruch verbreitet, der viel sagt über urbane Überheblichkeit: Roma locuta, causa finita.  Rom hat gesprochen, die Sache ist erledigt. Aufstand gegen solche Überheblichkeit ist auch Kultur. Zum Beispiel in den Asterix-Heften, die den Stadt-Land-Konflikt köstlich karikieren. Aber auch in den Bauernkriegen.

 

Picasso als Dauergast

 

Pablo Picasso liebte die Provinz. Zum Beispiel das mittelschwedische Städtchen Kristinehamn. Dort sind sie bis heute stolz auf ihren großen Dauergast. Ein Stückchen weiter nordwärts in der Provinz Dalarna lebt bis heute der Stolz darauf, dass dort die Wiege der Arbeiterbewegung stand. Geboren aus der Not, die Menschen massenhaft in die Städte trieb. Und nach Amerika, dem Dalarna bis heute anzumerken ist. Nicht nur wegen der Gewerkschaften, sondern auch wegen der in Rot und Weiß gestrichenen Holzhäuser. Und wegen der Musik, die Geigen zu Fideln werden lässt.

 

Auch Deutschland bietet genug solcher Beispiele. Bis heute. Oberammergau etwa, das tief in der bayerischen Provinz ein Musiktheater von Weltrang unterhält. Entstanden aus dem Glauben und der Pest, der sie ihr Passionsspiel entgegensetzten. Christian Stückl führt dort Regie. Gelernter Herrgottsschnitzer und zugleich einer der erfolgreichsten Theatermacher der Republik. In München führt er mit dem Volkstheater eine der ganz wenigen Großstadt-Bühnen, die ohne Steuergelder über die Runden kommen. Die gigantische Eröffnungsfeier zur Fußball-Weltmeisterschaft in Deutschland inszenierte der Autodidakt aus der Provinz. Und den Jedermann in Salzburg.

 

Emil Nolde und Theodor Storm

 

Emil Noldes Bilder und die Lyrik des Theodor von Storm stehen für „provinzielle“ Hochkultur im Norden. Dort füllt Störtebeker bis heute sein Theater. Vielleicht im Schatten der Philharmonie an der Elbe. Aber nicht minder erfolgreich. Was übrigens auch für den Kleinstaat Island gilt, der mit seinem Opernhaus weltweit Beachtung findet. Bei lächerlich geringen Kosten im Vergleich zu Hamburg.

 

Laienspiel und Blaskapelle als Kulturträger

 

Noch gibt es Dörfer, in denen gehört es zum guten Ton, nicht daheim zu bleiben, wenn die Laienspielschar Theater macht oder die Blaskapelle ein Konzert gibt. Was Kultur davor bewahrt, zum teuren Vergnügen elitärer Minderheiten zu werden. Und nicht den Rest der Bürgerschaft in die Bundesliga-Stadien und Konzert-Arenen treibt. Durchaus vergleichbar mit dem Kolosseum im alten Rom. Womöglich nicht Kultur im Bildungsbürger-Sinn, sondern eher Opium fürs Volk.

 

Womit wir bei der Kultur für die Massen sind: Auch einer der wenigen Sangeskünstler, die es in unserer Zeit mit Nachdenkswertem in die Hitparaden geschafft haben, ist ein Kind der Provinz: Hubert von Goisern bekennt sich zu seinen dörflichen Wurzeln und zu einer Musik, die nach Heimat klingt. Ohne die Provinz wäre die Kultur ärmer. Auch in der Großstadt, wo die Menschen nur noch schwer zu ihren Wurzeln finden. Und oft belächeln, was sie in Wahrheit vermissen.

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