Laschets Trauma: Minderheitsmehrheiten

 

Von André Vielstädte

 

Das Ergebnis der Bundestagswahl 2021 ist offen wie selten zuvor. Noch offener sind die Optionen der Koalitionsbildung, die sich den Parteien nach dem 26. September bieten. Ampel, Jamaika oder Schreckgespenst R2G - die Umfragen scheinen viele Optionen zu ermöglichen. Und genau diese Prognosen werden von Parteien und Medien heißgeredet oder auch totgeschwiegen. Eine Option kommt in den Spekulationen aber bisher nicht vor, und das obwohl SPD und Grüne gute Erfahrungen damit gemacht haben und Armin Laschet hautnah dabei war: die Minderheitsregierung.  

 

Ein Blick zurück: 2010 tritt bei der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen für die Sozialdemokraten Hannelore Kraft an, das bevölkerungsreichste Bundesland nach fünf Jahren unter CDU-Abtrünnigkeit unter Jürgen Rüttgers zurückzuerobern. Der SPD-Spitzenkandidatin gelingt es, der amtierenden Regierungspartei CDU mehr oder weniger ein Patt abzuringen. 34,5 % für die SPD zu 34,6 % für die Christdemokraten. Grüne folgen auf Platz drei, FDP und Linke bilden das Ensemble in einem Fünf-Parteien-Parlament, das die Bühne für ein parlamentarisches Experiment bildet: eine Minderheitsregierung.

 

Wechselnde Mehrheiten

 

SPD und Grüne vereinen weniger als die Hälfte der Sitze im Parlament. Trotzdem wird Hannelore Kraft Ministerpräsidentin von Nordrhein-Westfalen. Die beiden Parteien bilden die rot-grüne Landesregierung, verabschieden Haushalte und treffen Mehrheitskompromisse in schwierigen politischen Fragen wie der Schulpolitik. Bei den entscheidenden Abstimmungen im Parlament, wie der Wahl zur Ministerpräsidentin oder der Haushaltsabstimmung enthält sich die Fraktion der Linken. Bei vielen weiteren parlamentarischen Abstimmungen arbeitet die Minderheitsregierung erfolgreich mit wechselnden parlamentarischen Mehrheiten.

 

Mal stimmt nach intensiver Diskussion in Fachausschüssen und internen Fraktionskreisen die CDU mit der Regierung, mal Liberale oder Linke. Insgesamt werden in der Regierungszeit zwischen 2010 und 2012 378 Abstimmungen im Düsseldorfer Landtag vollzogen, wovon 39,9% mit rot-rot-grüner Mehrheit getroffen werden, 19,8% mit einer Mehrheit von SPD, Grünen, CDU und FDP gegen die Linke, 18,8% einstimmig, 2,7% mit Jamaika-Mehrheit sowie 5,3% mit Mehrheit von SPD, Grünen und CDU.

 

Ziel Neuwahlen

 

Nach zwei Jahren erfolgreicher Regierungsarbeit und Etablierung der rot-grünen Landesregierung scheitert die nächste Haushaltsbildung und Neuwahlen werden vorangetrieben. Dieses kalkulierte Scheitern führt zu einer parlamentarischen Mehrheit für rot-grün. Zwei Jahre Regierungsverantwortung haben genügt, um Bekanntheitsgrad, Akzeptanz und Wählerwillen auf sich zu vereinen. Das Schreckgespenst einer von den LINKEN tolerierten rot-grünen Minderheitsregierung führt zu einer rot-grünen Mehrheitsregierung.

 

Armin Laschet erinnert sich in diesen heißen Wahlkampftagen der Bundestagswahl sehr genau an die Zeit in seiner rheinischen Heimat. Laschet war damals Abgeordneter im Düsseldorfer Landtag und kämpfte mehrfach vergeblich um Partei- und Fraktionsvorsitz. Der Rheinländer weiß also ganz genau, mit welchem parlamentarischen Stilmittel es SPD und Grünen gelungen ist, aus einem schwierigen Wahlergebnis in Regierungsverantwortung zu kommen.

 

Tolerierung durch Linke

 

Und so ist der Gedanke an eine rot-grüne Minderheitsregierung nach der Bundestagwahl offener denn je. Unter Tolerierung der Linken könnte Olaf Scholz als Bundeskanzler sicher gewählt werden und zahlreiche Gesetzesvorhaben durchsetzen. In den kritischen Fragen der Außen- und Sicherheitspolitik, in denen Dissens mit der Linken herrscht, würden Union und FDP zu ihrer Staatsräson gezwungen und damit Mehrheiten verschaffen.

 

Armin Laschet hat von 2010 bis 2012 hautnah erlebt, wie eine Minderheitsregierung die Union aus der Regierungsverantwortung getrieben hat. Er sollte diesen Schachzug also vorhersehen, wenn am 27. September der Koalitionspoker beginnt. 

 

 

Unser Gastautor:

 

Dr. André Vielstädte ist promovierter Politikwissenschaftler, Strategie- und Kommunikationsberater. In seiner Dissertation „Der Kraftakt: Die Minderheitsregierung in Nordrhein-Westfalen“ analysierte er die Funktionsbedingungen von Minderheitsregierungen im parlamentarischen System der Bundesrepublik Deutschland. Als Geschäftsführer und Sprecher verantwortete er viele Jahre die Unternehmenskommunikation beim Lebensmittelunternehmen Tönnies. In seinem Lehrauftrag an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt lehrt er zum Thema Öffentlichkeit und Öffentlichkeitsarbeit. Der erfahrene Beobachter des Politikbetriebes in Berlin und Düsseldorf fokussiert sich auf die Themen des ländlichen Raums. 

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