Experten im Blindflug

 

Von Jürgen Wermser

 

Die Flutkatastrophe in Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz ist mittlerweile durch andere Themen aus den Schlagzeilen verdrängt worden. Doch für die Menschen in den Überschwemmungsgebieten haben die Ereignisse nichts von ihrem Schrecken verloren. Trauer um Familienangehörige und Freunde, Sorge um die wirtschaftliche Existenz beherrschen die Gedanken und Gefühle. Einher geht dies mit der drängenden Frage: Hätte das Schlimmste nicht verhindert werden können, wenn die zuständigen Behörden rechtzeitig gewarnt und gehandelt hätten?

 

Möglicherweise ja, wie eine jetzt vom WDR vorgenommene Auswertung von Lageberichten aus der Katastrophenwoche an das Bundesinnenministerium zeigt. Die Berichte werfen ein denkbar schlechtes Licht auf das Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BBK). Danach haben die Experten die Gefahren durch das Hochwasser augenscheinlich in fataler Weise unterschätzt. Erst als das Ausmaß der Katastrophe schließlich nicht mehr zu übersehen gewesen sei, hätten die Beamten in einer Sondereinschätzung am 15. Juli um kurz nach Mitternacht notiert: „Durch die Großflächigkeit der Ereignisse ist von überörtlichen Hilfeleistungen, ggf. auch länderübergreifend auszugehen." Zu diesem Zeitpunkt war die Bundeswehr laut WDR bereits mit 230 Soldaten, 38 Radfahrzeugen und zwei Panzern zur Bergung im Einsatz.

 

Mangel an Urteilskraft

 

Wie ist eine solche Fehleinschätzung von „Experten“ nur möglich? Immerhin dürfte es sich um gut ausgebildete und mit Steuergeldern ordentlich bezahlte Mitarbeiter handeln, die die entsprechende fachwissenschaftliche Qualifikation besitzen. Doch es fehlte ihnen offenkundig an ausreichend Urteil- und Entschlusskraft, um aus behördlich vorliegenden sowie öffentlich zugänglichen Informationen - auch aus den Medien - die richtigen Schlüsse zu ziehen. Und vor allem darauf kommt es im Ernstfall an. Denn auf die Urteilskraft und das Fachwissen der zuständigen Mitarbeiter müssen sich Politiker und Bürger in der Stunde der Not verlassen können. Sonst drohen sie buchstäblich im Regen zu stehen - auf verlorenem Posten mit tödlichen Folgen.

 

Doch es kommt in Sachen Flutkatastrophe fast noch schlimmer: Die Lageberichte würden laut WDR zeigen, „dass die zuständigen Experten in den Folgetagen der Katastrophe vor allem Zusammenfassungen über bereits erfolgte und offensichtliche Schadensereignisse lieferten, dagegen aber kaum zuverlässige Prognosen.“ Da fragen sich nicht nur die unmittelbar Betroffenen der Flutkatastrophe: Wozu brauchen wir überhaupt noch eine solche Behörde, die eine Gefahr nicht vorhersagen geschweige denn managen, sondern lediglich im Anschluss beschreiben kann? Schließlich benötigt ja auch niemand eine Feuerwehr, die im Nachhinein über einen Brand berichtet anstatt ihn von Anbeginn mit aller Kraft zu bekämpfen.

 

Dringender Reformbedarf

 

In den kommenden Monaten wird die Justiz an dieser Stelle einiges zu tun haben. Denn bekanntlich ist Untätigkeit strafbar, wenn eine Pflicht zum rechtzeitigen Handeln besteht. Natürlich gilt hier wie üblich die Unschuldsvermutung. Gleichwohl: Erste Ermittlungen wegen fahrlässiger Tötung durch Unterlassen laufen bereits, so gegen den Landrat des Kreises Ahrweiler. Wie immer solche Verfahren auch ausgehen mögen, sie können das entstandene Leid nicht lindern. Aber sie können unter Umständen dazu beitragen, dass die richtigen Lehren aus den Vorfällen gezogen werden. Und darauf muss es aus Sicht der Bürger jetzt vor allem ankommen.

 

Ganz offenkundig besteht beim Katastrophenschutz in Deutschland Reformbedarf. Die Flutkatastrophe hat viele Schwachstellen in brutaler Weise offengelegt. Ohne den aufopferungsvollen Einsatz der vielen freiwilligen und professionellen Helfer wäre alles noch viel schlimmer geworden. Ihnen gebührt größtmöglicher Dank und Respekt. Das ändert aber nichts daran, dass an anderen Stellen - freundlich formuliert - suboptimal verfahren wurde. Genau dies muss die Politik zügig und zugleich penibel aufarbeiten, damit sich die Bürger - gerade auch in etwas dünner besiedelten, vermeintlich abgelegeneren Regionen - angemessen vor Naturgewalten geschützt fühlen können.

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