Das Bürgertum sortiert sich neu

 

Von Michael Lehner

 

Schwarzgrün scheint mit einem Mal wie Schnee von gestern. Für Schwarzrot wird es wohl nicht noch einmal reichen. Die AfD schwächelt in unappetitlichen Flügelkämpfen. Es sind Tage, die wenige Wochen vor der Bundestagswahl die Rolle der kleinen bürgerlichen Parteien in neues Licht rücken. Nicht nur die der FDP, sondern vor allem die der Freien Wähler.

 

Zweifel am Unionskandidaten machen das bürgerliche Lager unberechenbar. Das

Unbehagen an der vermeintlichen Sozialdemokratisierung unter Angela Merkel ist noch latent vorhanden. Gerade die Wähler im ländlichen Raum beobachten das Gebalge der drei größeren Parteien um das großstädtische Publikum mit Argwohn. Sie können das Bauern-Bashing und übertriebene Tierwohl-Debatten kaum ertragen.

 

Diese Gemengelage könnte den Wahltag zur Stunde der Freien Wähler werden lassen. Sie empfehlen sich spätestens seit ihrem Bundesparteitag diese Woche ungeniert als Königsmacher. Konservativ ohne braune Strähnen – und nicht angewiesen auf die Stimmen von Hardcore-Veganern und Gender-Sterndeutern. Und, vor allem, mit dem Machtmenschen Hubert Aiwanger an der Spitze.

 

Gern wird dieser Aiwanger unterschätzt. Obwohl er aus einem losen

Bürgermeisterwahlverein eine Partei gemacht hat, der die CSU den Verlust der absoluten Regierungsmehrheit in Bayern zu danken hat. Sie hätte den Spagat zwischen Moderne und ländlicher Kultur ohnehin nicht mehr lange durchgehalten. Und Bayern bekam einen würdigen Nachfolger der legendären Bayernpartei. Ein wenig weniger bigott als die alte CSU, aber deutlich erdverbundener als die neue.

 

Der Machtmensch Markus Söder war lange froh, dass ihm die Freien als Koalitionspartner das bayerische Landvolk bei Laune halten. Nun hat er die Gefahr erkannt, dass sie das CSU-Drohpotential in Berlin erheblich schmälern könnten. Seitdem gibt es auch in Bayern reichlich Koalitionsstreit. Nicht nur, weil sich Aiwanger nicht gegen Corona impfen lassen will, sondern auch, weil der Juniorpartner gnadenlos an Söders „grünem“ Image kratzt. Etwa bei der CSU-Tradition, Windräder gar nicht zu mögen.

 

Die Freien predigen ihrer Zielgruppe, wie gut die Leute in den Dörfern an der

Öko-Energie verdienen könnten. Sie prügeln gnadenlos auf den Amtsschimmel ein. Sie geißeln europäische Schuldenpolitik. Und nehmen damit ein Thema auf, mit dem die AfD ihre größten Erfolge hatte. Bevor sie sich entschloss, im Nachhinein den Zweiten Weltkrieg zu gewinnen.

 

Womit wir bei den aktuellen Chancen wären: Für Nationalkonservative ist der Wechsel zu den Freien Wählern allemal leichter als zu den Liberalen.  Beim Unionsstammpublikum schwindet die Angst vor einer Grünen-Kanzlerin im Fall, dass sie nicht Laschet wählen. Und verloren sind die Stimmen für die Freien womöglich nicht, wenn deren Langzeit-Trend anhält. Auch den Einzug in die Landesparlamente von Rheinland-Pfalz und Sachsen-Anhalt – dort durch Übertritte – hatte ihnen kaum jemand zugetraut.

 

Bleibt abzuwarten, was aus Aiwangers Prophezeiung wird, dass die Bürgerlichen nach der Bundestagswahl über ihn und seine Leute noch sehr froh sein werden.

 

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