„Wir brauchen neue Prioritäten“

 

Jochen Borchert hat einen breiten Erfahrungsschatz und ist auch lange nach seinem Ausscheiden als Bundeslandwirtschaftsminister treffsicher in seiner Beurteilung und mit seinen Prognosen, wenn es um die Politik und Entwicklung des Ländlichen Raumes geht. Die aktuelle Ministerin Julia Klöckner hat ihn als Vorsitzenden des Kompetenznetzwerkes Nutztierhaltung (sog. Borchert-Kommission) eingesetzt. Sie hat Vorschläge zum Umbau der Nutztierhaltung vorgelegt.

 

Unsere Blog-Autoren Wolfgang Kleideiter und Jost Springensguth haben mit ihm ein Gespräch geführt, das wir in zwei Teilen veröffentlichen. Heute geht es um die Politik für den ländlichen Raum und dessen Zukunftschancen.

 

Hier der Wortlaut:

 

Der ländliche Raum verändert sich immer weiter. Erleben wir eine Fortsetzung dessen, was vor Jahren mit dem Höfesterben begonnen hat, oder handelt es sich um eine neue Entwicklung?

 

Jochen Borchert: Die Entwicklung der Landwirtschaft ist nur ein Teil der Veränderungen. Wir müssen bei der Frage nach der Zukunft des ländlichen Raums breiter ansetzen. Viel wird davon abhängen, ob es uns gelingt, dort die Infrastruktur weiter auszubauen. Der ländliche Raum wird zum Beispiel als ruhiger und ungestörter Arbeits- und Wohnort an Attraktivität gewinnen, wenn wir überall über leistungsfähige Internet- und WLAN-Verbindungen verfügen. Dass viele Menschen nach der Corona-Krise weiter im Homeoffice arbeiten wollen, ist eine Chance für den ländlichen Raum. Das Wohnen ist hier zum Beispiel oft sehr viel preiswerter. Flankiert werden muss der digitale Ausbau von weiteren Strukturmaßnahmen. Wir brauchen zum Beispiel eine ausreichende Ärzteversorgung und gute Verkehrsanbindungen. Und es wird ebenso darauf ankommen, wie wir den Strukturwandel in der Landwirtschaft in den nächsten Jahren gestalten. Bei all den Brüchen, die jetzt kommen, sehe ich große Chancen für den ländlichen Raum.

 

Bisher erfolgt der Breitbandausbau vorwiegend in den Städten und Zentren. Müssen die Prioritäten neu gesetzt werden?

 

Borchert: Die beste Internet-Verbindung habe ich in meinem Heimatort Nahrstedt in Sachsen-Anhalt. Es gibt dort einen Glasfaseranschluss und eine WLAN-Verbindung, die besser ist als im Ruhrgebiet. Aber es gibt viele Gebiete, die längst nicht so gut ausgestattet sind. Hier brauchen wir in der Tat neue Prioritäten, um die Entwicklung dort gezielt voranzutreiben. Wenn wir das nicht mit entsprechender staatlicher Unterstützung tun, wird es für den ländlichen Raum schwierig.

 

Ist er politische Wille stark genug, dies zu erkennen und umzusetzen? In den Parteiprogrammen zur bevorstehenden Bundestagswahl ist dort vom ländlichen Raum kaum die Rede.

 

Borchert: Ich glaube, dass man auf Bundesebene erkannt hat, dass mehr für den ländlichen Raum getan werden muss. Entscheidend ist aber, wie die Bundesländer ihre Mittel einsetzen. Hier ist die Situation aus meiner Sicht sehr unterschiedlich. In Nordrhein-Westfalen habe ich den Eindruck, dass die Landesregierung die Notwendigkeit und die Bedeutung erkannt hat. Hier werden die Infrastrukturprobleme des ländlichen Raums angegangen.

 

Wie sieht es bei Bildung, Gesundheit und Nahversorgung aus? Es gibt Regionen wie Mecklenburg-Vorpommern, in denen fast nur noch die ältere Generation lebt – und dieser wird immer mehr die Versorgung entzogen.

 

Borchert: In Mecklenburg-Vorpommern ist die Situation tatsächlich schwierig, weil auch die Bevölkerungsdichte inzwischen so niedrig ist. Es ist alles andere als einfach, dort zum Beispiel eine ärztliche Versorgung sicherzustellen. In diesen Regionen muss vor allem der öffentliche Nahverkehr ausgebaut werden, damit die Menschen, die über kein Fahrzeug verfügen, die Möglichkeit haben, den Arzt oder das Geschäft auszusuchen. Das ist ganz entscheidend für die Entwicklung.

 

Haben Sie den Eindruck, dass man in Sachsen-Anhalt froh über das Ausscheiden der Grünen aus der Landesregierung ist? Ministerin Claudia Dalbert dürfte das Ministerin für Umwelt, Landwirtschaft und Energie abgeben.

 

Borchert: Die Bauern sind froh, aber ob das generell der Fall ist, kann ich nicht sagen. In der Landwirtschaft war die Agrarpolitik der grünen Ministerin sehr umstritten. Da gab es viel Ärger. Man muss nun abwarten, wie sich die Koalitionsverhandlungen von CDU, SPD und FDP in Sachsen-Anhalt entwickeln. Benötigt wird auch dort eine Agrarpolitik, die die strukturelle Weiterentwicklung und die Produktionsschwerpunkte berücksichtigt.

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