Ernüchterung am Stammtisch

 

Von Michael Lehner

 

Gut sieben Monate hatten Deutschlands Stammtische Corona-Pause. Der Politik fehlte so ein wichtiges Stimmungsbarometer – zumal den Volksparteien. Vor allem der SPD, aber auch den Schwarzen. Meinungsumfragen sind nämlich nur ein mäßiger Ersatz für die basisdemokratische Willensbildung in Wirtshäusern und Eckkneipen. Dort wird diskutiert, was die Menschen wirklich bewegt. Und das ist mitnichten nur Fußball.

 

Gesprächsbedarf herrscht auf diesem Niveau zum Beispiel in der Kanzlerfrage. Die erklärt auch den deutlichen Stimmungszuwachs für die Union und ihren Kanzlerkandidaten. Armin Laschet gewinnt am Stammtisch. Nicht so sehr aus eigener Kraft, sondern weil die Grünen Annalena Baerbock ins Rennen geschickt haben. Der trauen Hinz und Kunz das Amt nicht zu. Dem Sozi Olaf Scholz schon eher; aber dem ist die eigene Partei im Wege.

 

Tarifverträge wichtiger als Mindestlöhne

 

Du musst in diesen Tagen nur Saskia oder Norbert sagen, um selbst im ganzen Ort bekannte SPD-Wähler zum Schmunzeln zu bringen. Gerade die Partei-Linken haben die Arbeiterpartei bei ihrer Stammwählerschaft in Erklärungsnot gebracht. Bei der sind Tarifverträge wichtiger als Mindestlöhne. Und zu Klima-Greta fallen ihnen meist nur gemeine Zoten ein. Oder der Zusammenhang zwischen Heizölpreis und Erderwärmung. Was nicht heißen muss, dass die grünen Themen nicht auch hier angekommen sind. Sie werden halt nur in ihrer ganzen Tragweite diskutiert – auch in ihrer Auswirkung auf den

Geldbeutel.

 

Wenn die Eliten der Gesellschaft Gender-Sternchen und Kachelofen-Feinstaub wichtig finden, reden sie an den Interessen von Lieschen Müller und Otto Normalverbraucher vorbei. Wichtiger wären die Zusammenhänge zwischen Discounter-Schnitzel und Tierwohl kombiniert mit der Frage, wo die Bauern noch sparen sollen, um zu überleben. Oder den Wahnsinn, dass Bauholz unerschwinglich wird, während das Stammholz noch immer kaum die Erntekosten deckt und höchst klimaschädlich bis nach Amerika und China exportiert wird.

 

Absolute Mehrheiten lange vorbei

 

Lang ist´s her, dass die bayerische CSU die Lufthoheit über den Stammtischen für sich reklamierte (und noch absolute Regierungsmehrheiten erzielte). Und fast noch länger, dass die SPD in den Arbeitervierteln nicht zu schlagen war. Die Union mag sich auf dem absteigenden Ast dafür bedanken, dass es Grüne gibt, die keine Einfamilienhäuser mögen. Den freien Fall der Sozialdemokraten bremst weniger eigene Kraft als die wachsende Neigung der Linkspartei, sich der Pseudo-Probleme des urbanen Wohllebens anzunehmen.

 

Dabei wäre der gern geschmähte Stammtisch sogar gegen die Angst der Etablierten vor der AfD-Konkurrenz hilfreich: Dort geht neuerdings die Parole um, dass es wichtig sei, die zunehmend weniger geliebte Union zu wählen und nicht deren Konkurrenz am rechten Rand. Sonst drohe die „grüne“ Kanzlerschaft mit Laschet als Juniorpartner. „Auf den Kanzler kommt es an“ – zumindest an der Frühschoppen-Basis hat der alte Schlachtruf heute eine ganz andere Bedeutung.

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