Augen zu und durch

 

Von Jürgen Wermser

 

Inszenierter Jubel durch Neumitglieder, demonstrative Rückendeckung für das Spitzenduo Baerbock/Habeck, kaum Kontroversen ums Programm: Die Grünen-Führung tat alles, um den Online-Parteitag für einen Stimmungsumschwung zu nutzen. Die Mühe war vergeblich.

 

Weder die Inhalte noch das Personal dürften neue Wählerschichten erreichen. Dafür wirkte alles zu inszeniert und um Gefälligkeit bemüht. So wurden zwar viele radikale Forderungen etwa im Bereich Wirtschaft und Klimaschutz entschärft und weichgespült. Aber dieser Lack dürfte nach einem etwaigen Erfolg bei der Bundestagswahl schnell wieder abblättern.

 

Zu tief sitzt in der Partei der Wunsch nach einem grundlegenden Umbau von Wirtschaft und Gesellschaft. Höhere Spritpreise, noch mehr teure Auflagen und bürokratische Gängelungen etwa für die Landwirtschaft oder beim Hausbau - der Druck der Basis auf mögliche grüne Kabinettsmitglieder oder gar eine Kanzlerin wäre in solchen Punkten programmiert. Gerade für die Bürger im ländlichen Raum könnte es da ein böses Erwachen geben.

 

Baerbock wollte keinen Fehler machen

 

Umso wichtiger wäre, dass die Partei mit einer Führung antritt, die genug Seriosität und Souveränität ausstrahlt, um solch riskante Vorstöße dauerhaft abzuwehren. Doch auch in dieser Hinsicht sind die Zweifel durch den Verlauf des Parteitags eher noch gewachsen. Zwar hat Annalena Baerbock in ihrer Bewerbungsrede für die Kanzlerkandidatur keine groben Fehler gemacht. Aber ihre Anspannung nach den jüngsten Pannen in Sachen Lebenslauf und Finanzen war sichtlich hoch, vielleicht zu hoch.

 

Baerbock ärgerte sich nach ihrer Rede mit einem Fluch über einen kleinen Versprecher. Diese spontane Dünnhäutigkeit mag menschlich sympathisch wirken. Aber sie weckt zugleich Zweifel an der nötigen Professionalität für das wichtigste Amt im Staat. Denn wie würde Baerbock beispielsweise als etwaige Kanzlerin auf ungleich härteren politischen Druck von Figuren eines Kalibers Putin, Erdogan oder früher Trump reagieren? Da dürfte so manchem Bürger doch ein etwas mulmiges Gefühl beschleichen…

 

Auch die Grünen sind momentan wenig glücklich über die Fehltritte ihrer Spitzenfrau. Aber sie haben so kurz vor der Wahl keine personelle Alternative mehr. Bei ihnen gilt nun die Devise „Augen zu und durch“. Das Votum von über 98 Prozent für das Spitzenduo Baerbock/Habeck ist insofern kein besonderer Vertrauensbeweis für die Kanzlerkandidatin, zumal Baerbock und Habeck gemeinsam zur Abstimmung standen. Das Ergebnis lässt sich nicht zwischen beiden aufschlüsseln - vielleicht zum Glück für Baerbock, denn der heimliche Gewinner des Parteitags war fraglos Habeck mit einem fehlerfreien und souveränen Auftritt.

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